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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

gedenken, der noch am Kreuze die unvergänglichen Worte sprach: Vater, vergieb ihnen …

Rechts von der Kanzel, in einem der braunrot angedunkelten Kirchenstühle, saß Hildegard Leuthold mit ihrem Vater, dem Herrn Magister. Die Stimme des Geistlichen klang so tief und erbaulich und das Sonnenlicht glänzte nach etlichen trübwolkigen Tagen so wunderherrlich durch die bemalten Scheiben, daß auch ein kälteres Herz als das der frommgläubigen Hildegard zur Andacht gestimmt worden wäre. Seltsam aber und unerhört, zum erstenmal, seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, konnte Hildegard Leuthold unter den Wölbungen des Gotteshauses nicht die erwünschte Sammlung finden.

Zweierlei zog’ sie beständig ab, ein lichter Gedankenkreis und ein düsterer.

Der lichte bezog sich auf Doktor Gustav Ambrosius. Bei jener trauten Geburtstagsfeier, die jetzt um anderthalb Wochen zurücklag, war sich Hildegard über den Zustand ihres Gemüts endgültig klar geworden. Sie wußte jetzt, daß ihre lebhafte Sympathie für den jungen Arzt mehr als äußerliches Gefallen, mehr als freundschaftliche Teilnahme war. Ehe er noch damals von dannen ging, fühlte sie, daß ihr Schicksal besiegelt sei, daß sie ihn liebte, liebte mit aller Glut und Kraft ihres jungfräulich reinen Herzens. Und deshalb war eine Zaghaftigkeit über ihr Wesen gekommen, eine bang zweifelnde Scheu, die nur dann sich in Freudigkeit und glückseliges Hoffen löste, wenn der Geliebte ihr nahe war. Zweimal noch hatte sie ihn seit jenem Tage gesehen. Der Ton, in dem er da mit ihr sprach, schien ihr so merkwürdig ernst und bescheiden, beinahe ehrfürchtig, daß es in ihrer Brust jubelte. Auch er hat dich lieb! – Während der Trennung aber geriet dann die fröhliche Zuversicht wieder ins Schwanken. Nach Art aller wirklich liebenden Mädchen war sie voll Demut und hielt ihn, wenn sie einsam darüber nachsann, für bei weitem zu hoch und herrlich, als daß es ihm beifallen könnte, ihr, der Unbedeutenden, je seine dauernde Huld zu schenken. Diese Zaghaftigkeit suchte sie auch jetzt wieder heim und erfüllte ihr Herz mit Bildern und Vorstellungen, die ihr die Andacht störten. Fruchtlos mühte sie sich, den tieftönigen Worten des Priesters zu folgen. Sie hörte nur den Klang, nicht den Sinn. Vor ihrem geistigen Auge stand immer und immer wieder die teure Gestalt des Mannes, der ihre Seele so in Wirrnis gesetzt hatte. Bald sah sie ihn, wie er, das dunkle Barett in der Hand, dem freudig erstaunten Vater ihr Bildnis reichte. Bald, wie er im bunten Gewühl der Haingasse ritterlich grüßend an ihr vorbeischritt. Bald, wie er den Arm auf die Verdachung der Strandmauer stützte und nachdenklich hinabschaute auf das Entgleiten der Grossachwellen. Und seltsam, bei aller Bangigkeit, die sie verspürte, regte sich doch im Grund ihres Herzens ein unendliches Wonnegefühl. Sie kam sich geheiligt vor, wenn sie sich dieser Träumerei überließ; es war ihr zu Mut, als öffnete sich ihr dabei der unendliche Himmel, der so leuchtend und schön durch den geöffneten Oberflügel des Spitzbogenfensters in die freundliche Kirche sah.

Der düstere Gedanke, der ihr zuweilen mitten ins Blau ihrer Verzückung hinein trübselige Schatten warf, bezog sich auf eine ihr gründlich verhaßte Persönlichkeit droben links auf der Empore. Es war ein breitschulteriger vierzigjähriger Mann, gleich dem Verkünder des Gotteswortes in tiefstes Schwarz gekleidet, nur ohne das mildernde Weiß der gestärkten Halskrause. Das runde, blühende Antlitz mit der etwas hervorstehenden Unterlippe, die auf ungewöhnliche Willenskraft hinwies, hatte im Grund etwas Behäbiges, Gutartiges. Nur die Augen mit ihrem stechenden Blick paßten nicht ganz zu diesem Eindruck, immerhin konnte der Blick ebensogut scharfe Beobachtungsgabe und hervorragende Intelligenz wie Mißtrauen und Feindseligkeit bekunden.

Auch für die übrigen Teilnehmer des Gottesdienstes war dies vollblühende Antlitz ein Gegenstand häufigen und aufmerksamen Beschauens – zum Leidwesen des redlichen Stadtpfarrers, der mit Betrübnis wahrnahm, daß seine Gläubigen immer noch nicht gelernt hatten, die Anwesenheit des neuen Gemeindemitglieds wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Etliche sahen bewundernd, etliche mit heimlichem Grausen, noch andere wenigstens neugierig zu der Empore hinauf und verfolgten minutenlang die Bewegungen dieser festen fleischigen Hände und das Spiel der kraftvollen, manchmal wie im Kauen begriffenen Kinnmuskeln.

Der Mann da droben in dem geschnitzten Lehnstuhl war kein geringerer als der weithin gefürchtete Balthasar Noß, der bevorzugte Günstling des allergnädigsten Landesherrn, der eigens bestellte Zentgraf und erste Vorsitzer des Glaustädter Malefikantengerichts.

Unwillkürlich mußte auch Hildegard Leuthold ab und zu auf diesen üppigen frischroten Mund starren, der mit breitlächelnder Grausamkeit so viele Hunderte schuldloser Menschen den ausgesuchtesten Martern und dem schmachvollsten Tod überantwortet hatte.

Da sie selber nicht an die Hirngespinste des Hexenwahns glaubte, fiel es ihr schwer, bei einem denkenden, wohlunterrichteten Manne die Möglichkeit eines solchen Glaubens vorauszusetzen, obwohl ja zum Beispiel Adam Xylander selbst bei den Gegnern der Sache als ehrlich und überzeugt galt. Für Hildegard war dieser Balthasar Noß einfach der Wüterich, der aus teuflischer Lust an der Qual seiner Mitgeschöpfe und aus berechnendem Eigennutz den furchtbaren Irrtum des Volks und des Landgrafen ausnutzte.

Balthasar Noß machte jetzt eine Kopfwendung, die ihr die ganze Breite seines rundwangigen, faltenlosen Gesichts voll zukehrte. Hildegard schauderte. Im Studiergemach ihres Vaters hatte sie neulich einmal das Bild eines altrömischen Kaisers gesehen, dessen Hauptwonne es war, die christlichen Märtyrer im volksumringten Amphitheater von Löwen und Tigern zerfleischen zu lassen. War es Nero gewesen oder ein Späterer …? Vielleicht Domicianus? An diesen gräßlichen Imperator, der ja auch einen Zug von Behäbigkeit im Gesicht hatte und durchaus nicht der Vorstellung entsprach, die man sich machte, wenn man die Schilderungen der alten Autoren las, gemahnte sie jetzt dieser gesunde, kernig und kraftvoll ausschauende Balthasar Noß. Um seine stark entwickelte Unterlippe spielte sogar ein leises freundliches Lächeln. Und gestern erst hatte der fluchbeladene Mensch wieder nach längerer Pause ein ganzes Dutzend von Opfern zugleich auf dem Böhlauer Trieb teils mit dem Schwert hinrichten, teils lebendig einäschern lassen! Das Wimmern des Armensünderglöckleins tönte der heimlich bebenden Hildegard noch im Ohr und das gespenstische Murmeln der Schaulustigen, die scharenweise über den sonnenglühenden Markt strömten. Vom Besuch eines erkrankten Schützlings heimkehrend, hatte sie selber auf der schwarzen Basaltplatte das Verzeichnis des ‚fünfzehnten Brandes‘ gelesen, den Balthasar Noß zu Ehren der Glaustädter Justiz da draußen vor dem Gusecker Thor anzünden wollte. Sie erinnerte sich einzelner Namen und Zusätze. Da stand in kraus verschnörkelten Buchstaben: Der Dungersleber, ein Spielmann. Die alte Rumin. Des Herrn Mengersdorfers alte Köchin. Des Johann Steinbachs Voigtin. Der Wagner Wunth. Die Zinckel Babel. Der Fronbauer Kleinweiler aus Lynndorf. Und andere Namen.

Der Kleinweiler hatte also doch dran glauben müssen, trotz der scheinbar günstigen Wendung, die sein Prozeß nahm, als sich der Pfarrer von Lynndorf als entlastender Leumundszeuge beim Blutgericht stellte. Es half nichts. Die arme Lieselott! Und die bejammernswürdige Ehefrau!

Was aber Hildegard noch viel tiefer erschüttert hatte als die Nennung des Namens Kleinweiler, das war die Bezeichnung des letzten Opfers, die also lautete. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren. – Den ganzen Tag hatte sie gestern gebraucht, um den furchtbaren Eindruck dieser wenigen und doch so beredten Worte aus ihrer Seele hinwegzutilgen. Jetzt, wie Balthasar Noß ihr sein strotzendes Imperatorengesicht so mit der vollen Breitseite zukehrte, tauchte das Halbvergessene wieder grell und schauerlich vor ihr auf. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren! Ein hilfloses Kind! Das einzige Glück seiner Mutter vielleicht! Ein zartes, armes, unbekanntes Geschöpf, das noch nichts ahnte von Gut und Böse! Und dennoch niedergezwungen durch die rohe Gewalt des Henkers und elend gemordet als Hexe und Satansgenossin!

Inbrünstig faltete Hildegard Leuthold die Hände. Sie sandte im stillen ein heißes Gebet zu Gott empor, er möge doch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_430.jpg&oldid=- (Version vom 25.9.2022)