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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Gestalt mit dem lieblich geröteten Antlitz und den herrlichen Zöpfen wohl zum zwanzigstenmal an seinem starrblickenden Auge vorüber und setzte sein Blut mehr und mehr in stürmische Wallung. Mit jeder Sekunde wuchs ihm der Mut und das Selbstvertrauen. Die Weiber sind unergründlich! Wer konnte denn wissen, ob nicht bei dem Benehmen Hildegards damals im Laubgang sogar eine wohlüberlegte Berechnung mitspielte? Selbst den unerfahrensten Jungfrauen ist die Thatsache geläufig, daß die Bevorzugung eines anderen die Liebe des scheinbar Zurückgesetzten wunderbar schürt und belebt! Vorhin erst hatte sich Lotefend in dem großen französischen Langspiegel seines Prunkzimmers unparteiisch gemustert. Ohne sich rühmen zu wollen, durfte er sich das Zeugnis eines noch immer stattlichen, frischen und nicht ganz alltäglichen Mannes geben. Er war allerdings nicht mehr so unerhört jung wie dieser Ambrosius, aber dafür überragte er den Herrn Doktor beinahe um Handbreite. Er, Henrich, besaß noch volles, braunlockiges Haar, das nur an den Schläfen ganz unmerklich ergraut war, und einen prächtigen, tiefschwarzen Vollbart. Der schlankvornehme Wuchs hatte noch kaum gelitten, wenn auch der Sechsundvierzigjährige selbstverständlicherweise stärker und breiter war als der Knabe von achtundzwanzig. Und wie oft hatte man Beispiele erlebt, daß gerade die zartesten und weiblichsten Frauen eine gereifte Männlichkeit dem blühendsten Jünglingsalter unbedingt vorzogen!

Zudem – so bethörte sich Henrich Lotefend weiter – sein Vermögen wog schließlich doch auch etwas! Glanz und Reichtum galten ja einem Geschöpf wie dieser Hildegard Leuthold gewiß nicht alles, aber bei sonst gleichwertigen Sympathien gab das Gold vielleicht doch am Ende den Ausschlag. Wenn sie ihn heiratete, würde Hildegard Leuthold ein Leben führen wie eine Königin. Er wollte ihr ein Daheim gründen, das von Luxus und Pracht überquölle. Die Schönheiten fremder Länder würden sich ihr erschließen wie ein unerschöpfliches Füllhorn. Sie sollte Paris kennenlernen und die Kaiserstadt an der Donau und die gesegneten Flure Italiens. Am Rhein, in der Provence am Strande von Genua wollte er ihr prächtige Schlösser bauen, ausgestattet mit allen Herrlichkeiten der Erde. Schon vor seinem Geständnis im Lynndorfer Wald hatte sich Lotefend zuweilen bei Hildegard in derartige Schwärmereien ergangen. Er hatte ihr ausgemalt, was er beginnen würde, wenn er sein Leben nach eigenem Geschmack einrichte könnte … Frau Mechthildis freilich sei eine aufsässige stille Natur und aller Bewegung feindlich … Die halte an Glaustädt fest und hindere so die Verwirklichung dieser schönen Phantasmen … Die lockenden Bilder, die er vor Hildegard so verschwenderisch ausgerollt, mußten inzwischen nachgewirkt haben. Ihr träumendes Auge hatte ja damals schon aufgeleuchtet …

Henrich Lotefend nahm jetzt wahr, wie die Leutholdsche Wirtschafterin Gertrud Hegreiner den Garten betrat und ihr gelbrotes Spinnrad an die schattigste Stelle des Laubgangs setzte. Die große Flügelhaube schimmerte unter dem Blattgrün herüber wie ein fremdartiger Schmetterling.

Da packte den liebeglühenden Mann plötzlich der Einfall, das ist der rechte Augenblick! Den Vater Hildegards hatte er vor zwanzig Minuten bereits in die Thorstraße nach der Stadt einbiegen sehen. Gertrud Hegreiner war offenbar mit ihren häuslichen Obliegenheiten zu Ende und saß nun hier fest bis zum Abend. Ehe die Kinder kamen, die Hildegard unterrichtete, verging wohl noch eine Stunde. Das Hausmädchen aber, die gute dumme Theres, würde es nicht sehr auffällig finden, wenn ein Freund der Familie, dazu ein Mann seines Alters, auch in Abwesenheit des Magisters vorsprach. Schlimmstenfalls konnte er dieser Bauerngans mit ein paar Weißpfennigen wohl den Mund stopfen.

Kurz entschlossen machte sich Lotefend auf den Weg. Er war in der letzten Zeit immer mit äußerster Sorgfalt gekleidet, sogar im Haus, daher er denn nur nach dem breitkrempigen Hut griff. Auch nahm er nicht erst von Mechthilds Abschied. Die lag ohnehin drüben in ihrer schattigverhängten Kemenate und schlief. Mochte sie weiter schlafen!

Vorsichtig öffnete er das schmiedeeiserne Thor das bei Tage nur eingeklinkt war. Auch die Hausthür stand offen, so daß Lotefend unbemerkt bis an das Zimmer gelangte, wo die nichts ahnende Hildegard so emsig mit Aufräumen beschäftigt war.

Hier machte der fieberisch erregte Mann für einen Augenblick Halt. Das Herz schlug ihm doch hart und wild an die Rippen. Er holte aus tiefster Brust Atem. Fast wäre er umgekehrt.

Endlich warf er sich in die Brust, schalt sich einen verwünschten Feigling und pochte ganz leise. Dann etwas stärker. Hildegard, das graulinnene Hauskleid ein wenig gerafft, eine Staubschürze vorgebunden, öffnete ihm.

„Gott zum Gruß!“ stammelte Lotefend. „Nehmt’s nicht ungut, liebwerte Freundin, wenn ich hier störe! Ich dachte Euren Herrn Vater zu finden.

„Der ist ausgegangen.“

„Schade!“

„Kann ich an seiner Statt Euch gefällig sein …?“

„Tausend Dank! Ihr müßt nämlich wissen … Gestattet Ihr, daß ich eintrete?“

Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, überschritt er die Schwelle und drückte die wuchtige Eichenholzthür langsam ins Schloß.

Hildegard begann stutzig zu werden.

„Ihr seht,“ sprach sie mit ruhiger Höflichkeit, „ich bin leider jetzt auf Besuche nicht eingerichtet.“

Sie wies auf die Staubschürze und die rings herrschende Unordnung.

„O! Zwischen Nachbarsleuten bedarf’s da keiner Entschuldigung!“

„Also; wie kann ich Euch dienen, Herr Nachbar?“

„Indem Ihr freundlich vergönnt … indem Ihr … mich drei Minuten lang ruhig anhört.“

Das Fräulein sah ihn verblüfft an. Seine Unsicherheit und Verlegenheit ließ keinen Zweifel darüber, daß ihn die nämliche Stimmung beseelte, die ihn damals im Lynndorfer Gehölz übermannt hatte.

„Hildegard,“ fuhr er dann fort, heiser vor Aufregung, „ich ertrag’ es nicht mehr! Lieber das Schlimmste, lieber den Tod als diese fortwährende Qual!“

„Aber um Gott, Herr Lotefend …“

„Laßt mich ausreden! Ich will nun endlich ins klare kommen – Hildegard, habt Ihr Euch mein Bekenntnis zurecht gelegt? Habt Ihr bedacht, was es heißt, wenn ein ernster, gereifter Mann auf der Grenzscheide zwischen Alter und Jugend zum erstenmal eine echte, wahrhaftige Liebe fühlt? Ihr müßt das erwogen haben! Und, Hildegard, es ist ja nicht anders möglich, mein ehrfürchtiges Schweigen all die Zeit über, während ich vor brennender Sehnsucht beinah’ verrückt wurde, kann nicht ohne Eindruck auf Euch geblieben sein! Das wäre doch wider alle Natur! Und deshalb komm’ ich nun mit der flehenden Bitte: gebt mir doch wenigstens einen Funken von Hoffnung! Ich kann ja nicht leben und sterben …“

„Herr Lotefend …. Habt Ihr so ganz vergessen …?“

„Nichts hab’ ich vergessen. Ich weiß, daß ich Euch damals gelobte … Aber das war ein falsches Gelöbnis. Das war mir erpreßt durch die Angst, den Verkehr mit Euch aufgeben zu müssen. Wie kann ich geloben, mir aus dem Herzen zu reißen, was doch den Kern meines Lebens ausmacht! Erbarmt Euch meiner, vielteure Hildegard! Wühlt es Euch denn so gar nicht auf, wenn Ihr gewahrt, wie’s mir den Atem raubt?“

„Ihr habt eine Ehewirtin, Herr Lotefend, die Euch von Herzen liebt und der Ihr Treue geschworen habt bis in den Tod.“

„Hildegard! Weshalb verhöhnt Ihr mich noch? Ich hab’ Euch ja schon erzählt, wie’s kam … Und wenn ich damals geirrt habe, soll ich deshalb nun büßen in alle Ewigkeit? Ist’s denn meine Schuld, daß Ihr nicht früher in mein Leben getreten seid – als ich noch frei war und jugendfroh? Aber ich werde die Freiheit jetzt wiedererlangen und eine neue, schönere Jugend soll bei mir Einzug halten! Nur von Euch hängt das ab … Hildegard, Hildegard, ich beschwöre Euch! Rafft Euch empor und bezwingt Eure grundlosen Gewissenszweifel! Goldne Tage sollt Ihr bei mir verleben! Ich will Euch auf Händen tragen und Euch verehren und anbeten wie eine Heilige!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_450.jpg&oldid=- (Version vom 25.9.2022)