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einer großen Schlacht bezeichnen, wo jahrhundertelang die Gebeine der Erschlagenen dorrten.

Das Breithorn, von dem uns nur der schillernde Eisstrom der unter ihm zusammentreffenden Gletscher trennt, ist ein überaus schöner Berg, er erinnert stark an das Bild, das die „Jungfrau“ von der Wengernalp aus gewährt, auch die benachbarten „Zwillinge“ gefallen durch ihre anmutigen Gestalten; geradezu erschreckend aber wirkt der jähe Lyskamm mit seinen riesigen Eisschründen.

Monterosa, der höchste Berg der Schweiz! – Wenn man es nicht wüßte, vom bloßen Sehen hier erriete man es nicht, und wer ihn in der Morgenfrühe aus dem Marmorwald des Domes zu Mailand gesehen, wie er als duftige Burg der Rosenkönigin in überirdischer Große über einem Meer von Wolken und Nebeln schwebt, der ist enttäuscht über das plumpe, nur durch seine Massigkeit hervorragende Bild, das er vom Gornergrat gewährt. Aber großartig ist der Gornergletscher, der in machtvollem Wogenzug, ein versteinerter Strom, dem versteinerte Nebenströme zufließen von seinen Flanken niederwallt und uns hart zu Füßen zwischen Gornergrat und Breithorn, wo auch der Schwärzegletscher mündet, in das grüne Gelände von Zermatt hinunterfließt. Auf seinem Rücken trägt er den Schutt der Berge, der sich in langen Moränenhügeln sammelt, so daß es aussieht, als wäre ein Riesenpflug durch das Eis gegangen und hätte die Furchen und Hügel gezogen.

Eine gewaltige Kette von Bergen zieht sich vom Monterosa östlich gegen das Rhonethal hinaus, Cima di Jazzi, die Stock-, Strahl-, Rimpfisch- und Mischabelhörner ragen darin auf und drüben im Norden, jenseit des in seine Bergspalte versunkenen Zermatts, leuchtet wieder Gipfel an Gipfel, da streben im schönsten Aufbau Weiß-, Schall-, Trift- und Gabelhorn und die Dent blanche aus der irdischen in die himmlische Welt, und an den Nordpol mag man reisen, bis man unter stechender Sonne wieder solche Landschaften voll Schnee und Schweigen findet.

Das ist das Rundpanorama des Gornergrates. Der Blick bleibt ein verlorner Falter, der umsonst eine Blume, ein grünes Plätzchen sucht, um darauf auszuruhen von dem überschwenglichen Glanz und Licht. Eine Lücke in dieser Zackenkrone ist zwar offen, die des Zermattthals, aber an ihrem Horizont leuchten wieder nur Schneeberge, das Berner Hochmassiv mit der Blümlisalp. Nur aus wenigen Farbenelementen besteht also das Bild, aus dem tiefen Blau des südlichen Himmels, aus dem Weiß des ewigen Schnees und dem Schwarz der Felswände, die zu schroff sind, als daß der Schnee daran kleben bliebe, aber es ist feierlich und ergreifend, es ist voll überwältigender Schlummer- und Todespoesie. – Unsere obenstehende Abbildung zeigt uns einen Teil dieser erhabenen Hochgebirgswelt. Links im Vordergrunde sehen wir den Schwärzegletscher, weiter nach rechts erhebt sich das Breithorn, von dem der Breithorngletscher herabfließt. Die Mitte des Bildes nimmt der Theodulpaß ein, von dem links der Untere und rechts der Obere Theodulgletscher herabkommen, noch weiter rechts ragt das Matterhorn empor, während den Abschluß des Bildes die Spitze von Dent blanche bildet.

Die meisten Fremden jubeln auf, wenn sie in dieses Bild schauen, eine Stunde auf dem Gornergrat ist ihnen wie Gottesdienst – der Zermatter aber genießt es still. Gewiß, er liebt seine Berge, aber größer als seine Liebe ist seine scheue Furcht vor ihnen, denn er kennt sie nicht nur im Strahlengeschmeide eines schönen Sommertages, sondern auch im Schrecken ihrer Lawinen.

Die Glocken der Mutterkirche im Thal, die sieben Kapellen auf den Zermatter Alpen hören dann tagelang nicht auf zu wimmern, in Tiefen und Höhen liegt das Volk auf den Knieen und fleht zum Himmel, daß er es nicht untergehen lasse.

Darum kann sich der Zermatter kaum fassen, wenn er in die üppigen mannigfaltigen Thäler der mittleren Schweiz mit ihrer reichen Kultur, mit ihrem frohsinnigen Volksleben gelangt. Auf dem Bürgenstock am Vierwaldstättersee sah ich einen rauhen Zermatter Bergführer weinen. Als man ihn fragte, ob er Bauchgrimmen habe, daß er sich so im Gras wälze, da antwortete er: „Nein, ich heule, weil hier die Welt so schön ist und bei uns so traurig.“

In der That, wer von draußen gekommen ist, der würde es nicht länger als einen Sommer in Zermatt aushalten. Aufschreien müßte er: „Sprengt mir diese Hölle, wälzt mir die Berge von der Brust, gebt mir eine lachende Landschaft, einen weiten Horizont! Aber das ist auch gewiß. wer sich satt gesehen hat an Schweizerbergen, wer sich gewöhnt hat, Rigi und Pilatus als Miniaturwerk zu betrachten, wer die Berge von Grindelwald und Lauterbrunnen nicht mehr hoch genug findet, den ergreift doch noch einmal naives Staunen, ehrfürchtige Bewunderung vor der Erhabenheit des Hochgebirgs, wenn er der unbändigen Wildheit, der gesammelten Kraft der Berge gegenübersteht die wie Raubtiere in Schönheit und Erbarmungslosigkeit das Thal von Zermatt und seine Warte, den Gornergrat, umlauern.

Wir sind hier im Allerheiligsten der Alpen. Auge in Auge mit dem Löwen von Zermatt, mit dem Matterhorn – Größeres kann man in den Schweizerbergen nicht erleben!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_461.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)