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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Man konnte dabei an den Donner entfernter Geschütze denken, doch ist das Geräusch ein anderes und ich bin überzeugt, daß es mit Geschützdonner nichts zu thun hat. Diese Detonationen schienen stets vom Meere her zu kommen, nie aus dem Innern des Landes. Am 16. September 1894 vernahm ich auf der großen Landstraße von Ostende nach Thourout gegen elf Uhr morgens eine besonders heftige Detonation. Es war ein sehr warmer Tag und rings um im Felde herrschte völlige Ruhe. Der Schall kam unzweifelhaft vom Meere her. Obgleich ich seit meiner Jugend das mittlere und obere Belgien als rüstiger Fußgänger in allen Richtungen durchstreifte, habe ich diese sonderbaren Detonationen doch nur in der Nachbarschaft des Meeres gehört. Eine Erklärung über ihren Ursprung kann ich jedoch nicht geben. Sie treten vorzugsweise bei warmem, ruhigem Wetter auf und scheinen am stärksten zu sein, wenn das Meer still ist. Eine interessante Beobachtung möchte ich besonders erwähnen: Gegen Ende des Monats August saß ich im Dünensande, den Rücken dem Meere zugekehrt, und zeichnete die Landschaft, welche sich vor mir ausbreitete. Schon mehrmals hatte ich wieder die Detonation vernommen, als plötzlich eine sehr heftige erscholl. Ich fühlte dabei bestimmt den Boden unter mir erzittern, während der Bleistift, den ich in der Hand hatte, hin und her fuhr. Diese Thatsache ist, wie ich glaube, wichtig, denn sie beweist, daß der Schall dieser Detonationen gleichzeitig durch den Boden fortgepflanzt wird, sein Ursprung ist also nicht lediglich in der Luft zu suchen. Ein anderer Beobachter berichtet, daß er eines Tages bei heißem Wetter etwa acht Kilometer vom Meeresufer entfernt in seinem Segelboote gelegen habe, mit dem Ohr am Boden. In dieser Lage habe er die ihm wohlbekannten Detonationen sehr deutlich vernommen, und zwar schien es ihm, als wenn sie vom Meeresgrunde heraufkämen. Er sei aufgesprungen und habe die übrigen im Boote befindlichen Personen gefragt, aber diese hatten nichts vernommen. Nach den Angaben eines Ingenieurs aus Antwerpen sind die Schiffe in dem benachbarten Teile der Nordsee nicht selten, doch vermögen die Schiffer, welche sie sehr gut kennen, durchaus keine bestimmte Richtung anzugeben, aus der sie herstammen. Sie scheinen sozusagen aus allen Punkten des Horizontes oder auch aus dem Wasser rings um das Schiff zu kommen, schallen aber dumpf, wie aus weiter Ferne. Aus der Höhe kommen sie niemals, vielmehr scheinen sie gewissermaßen längs der Wasseroberfläche zu laufen. Der Berichterstatter ist für seine Person der Meinung, daß der Ort, von wo diese mysteriöse Detonation ausgehe, auf der See zwischen Flandern und der englischen Küste liege. Damit übereinstimmend ist eine Bemerkung von Leon Gerard, der die Schüsse häufig auf der Fahrt von Ramsgate nach Dünkirchen gehört hat. Auf einer solchen Fahrt hörte man am 8. September 1873 bei ruhiger, nebliger Luft plötzlich einen einzigen dumpfen Knall, so daß ein Matrose des Schiffes sich umsah, woher geschossen werde. Zu der nämlichen Zeit vernahmen Fischer zu Gravelines wiederholt Detonationen vom Meer her. Die Küstenbevölkerung in der Gegend von Ostende behauptet, daß der Ursprung der ihnen wohlbekannten Detonationen entweder am Ufer des Meeres oder im Meere zu suchen sei. Den Fischern gelten sie als Vorzeichen von lange an haltendem guten Wetter, auch versichern sie, daß die Erscheinung niemals bei Nacht eintrete, sondern nur am Tage, der Schall komme stets aus westlicher Richtung. Sehr bezeichnend hebt ein Beobachter hervor, es sei befremdend, daß noch niemand die Detonationen in seiner unmittelbaren Nähe vernommen habe, sondern daß sie immer aus weiter Ferne zu kommen scheinen. Dies sei um so auffallender, als die See an der belgischen und holländischen Küste sehr von Fahrzeugen belebt ist und man vernünftigerweise doch annehmen müsse, daß einmal eines dieser Fahrzeuge sich zufällig nahe dem Ursprungsorte der Detonationen befunden habe.

Im ganzen hat van den Broeck Berichte über diese Detonationen zusammenbringen können, aus denen sich aber durchaus nichts Sicheres über die Natur und den Ursprung derselben schließen läßt. Die von einigen aufgestellte Hypothese, die Ursache sei einfach in den Schießübungen aus Schiffs- oder Küstengeschützen an der englischen Küste zu suchen, ist wohl kaum zulässig.

Die Wahrnehmungen einiger Beobachter, welche sich dahin aussprechen, daß sie während der Detonationen ein leises Erzittern des Bodens fühlten oder zu fühlen glaubten, könnten einen Zusammenhang mit Erderschütterungen vermuten lassen. In der That hat man auch bezüglich der obenerwähnten Barisalschüsse in Indien einen Zusammenhang derselben mit unterirdischen vulkanischen Kräften annehmen zu dürfen geglaubt. Indessen hob schon Blanford hervor, daß jene Schüsse in einem verhältnismäßig nicht sehr ausgedehnten Gebiete wahrgenommen werden, wo zudem Erdbeben sehr selten sind. Endlich haben die Beobachtungen und Untersuchungen, welche de Rossi in Italien mit dem Mikrophon anstellte, ergeben, daß die unterirdischen Geräusche, welche den Erderschütterungen in der Nähe des Vesuv vorausgehen oder sie begleiten, glockenähnlichen Tönen oder einem Brausen oft auch dem Ticken einer Uhr oder dem Tone, welchen das Aneinanderreiben von Metalldrähten erzeugt, vergleichbar sind, niemals aber jenen tiefen dumpfen Schüssen, welche an der belgischen und holländischen Küste vernommen werden. Auch haben letztere eine bestimmte Beziehung zur Tageszeit, sie werden niemals während der Nacht gehört, sondern meist nur um die Mittagszeit, ja in Flandern setzen, wie Delvaux berichtet, die Bauern ihre Uhren auf Mittag, wenn die Schüsse erschallen. Bei Erdbeben findet aber dergleichen in so deutlicher Weise durchaus nicht statt. Man durfte noch am ehesten an einen wirklichen Ursprung der Detonation durch gewisse Vorgänge in der Luft denken, und in der That treten die meisten bei ruhigem Wetter, klarem oder nur etwas bewölktem Himmel, hoher Luftwärme und glatter See ein.

Professor Reiff macht darauf aufmerksam, daß, wenn durch einen kräftigen Windstoß, der dichtere Luft mit sich führt, das Gleichgewicht der Luft auf dem Wasser gestört wird, Verhältnisse eintreten können, die, wie sich mathematisch zeigen läßt, zuletzt dazu führen, daß das Erschütterungsgebiet der Luft zusammengedrängt wird und zuletzt in einen Verdichtungsstoß übergeht, den wir bei genügender Stärke als Schall oder Schuß wahrnehmen. Eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen dieses Vorganges ist die ungehinderte Ausbreitung der Erschütterung, und diese Bedingung ist auf einer großen Wasseroberfläche gegeben.

Diese Erklärung der seltsamen Detonationen ist meines Erachtens allen andern bis jetzt vorgebrachten vorzuziehen, indessen ist das ganze Phänomen noch bei weitem nicht genügend erforscht, um ein endgültiges Urteil abzugeben.

Van den Broeck hat deshalb einen Fragebogen zusammengestellt, welcher alle Punkte enthält, deren Kenntnis für die Deutung der Erscheinung wichtig ist. In diesem Fragebogen heißt es u.a. Wie war der Stand der See, als die Detonation gehört wurde. Hoch oder steigendes Wasser? Niedrig oder fallendes Wasser? Stillwasser? War ein Fallen oder Steigen der Lufttemperatur unmittelbar mit der Erscheinung verbunden? Wie war die Durchsichtigkeit der Luft? Ist eine Wetteränderung, Gewitter oder dergl., unmittelbar gefolgt? An welchem Tage und zu welcher Stunde sind die Detonationen gehört worden? Woher schien der Knall zu kommen, aus der Höhe oder aus der Tiefe, von fern oder aus der Nähe? War der Ton kurz, lang, einfach, in Stärke veränderlich, mit Echo oder Rollen verbunden? Trat der Knall einfach oder reihenweise auf, in letzterem Falle in welchen Zwischenräumen? Schwächt sich der Ton ab, wenn man sich hinter natürlichen Schirmen, Gehölzen, Hügeln, Baulichkeiten, ja selbst hinter dem Regenschirm befindet? Aendert sich der Ton, wenn man ihn am Meeresspiegel oder mit dem Ohr am Boden vernimmt? Hat der Beobachter Ohrensausen oder nervöse Empfindungen, ähnlich wie manchmal bei Gewittern, gefühlt? Welche Meinung hat der Beobachter von der Entstehung des Tones?

Ich habe diese Fragen hier mitgeteilt, weil vielleicht der eine oder andere aus dem großen Leserkreise der „Gartenlaube“ Gelegenheit haben wird, die Detonationen am Meeresufer zu hören und durch aufmerksame Beachtung derselben und Beantwortung der Fragen einen Beitrag zur Lösung des Problems zu geben. Vielleicht sind ähnliche Detonationen auch an andern als den oben bezeichneten Orten vernommen worden, unter Umständen, die eine Zurückführung derselben auf menschliche Thätigkeit ausschließen; Mitteilungen über solche Wahrnehmungen sind im Interesse der Wissenschaft sehr erwünscht und werden von der Redaktion der „Gartenlaube“ zur Weiterbeförderung gern entgegengenommen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_463.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)