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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Und nun fiel die schwerwuchtende Eichenthür krachend ins Schloß, die Riegel schoben sich mit mattem Gekreisch vor, die Schritte des Kerkermeisters verhallten.

Hildegard war allein mit ihrer hilflos schauernden Todesangst.

18.

Balthasar Noß war von seiner Geschäftsreise ins Kurmainzische heimgekehrt. Daß diese sogenannte Geschäftsreise nur der leichtfertigen Demoiselle Haricourt galt, die jetzt mit der Zählerschen Truppe in dem kurmainzischen Marktflecken Böhlhausen spielte und dort bessere Gelegenheit fand, sich ihrem neuen Beschützer und Gönner zu widmen, als in Glaustädt, das ahnte nicht einmal die dralle blühende Bärbel, die trotz ihrer ländlich naiven Beschränktheit nicht ohne Scharfblick war, sobald es sich um zärtliche Abenteuer ihres Herrn und Gebieters handelte.

Es war heute Sonntag. Der Ritt aus dem Kurmainzischen her hatte fünf Stunden in Anspruch genommen. Punkt Sechs war Herr Balthasar Noß in Glaustädt eingetroffen, etwas ermüdet zwar, aber doch sonst bei glücklichster Laune. Jetzt, gegen halb Acht, saß er in seinem wohligen Lehnstuhl am weitgeöffneten Fenster und schlürfte behaglich den duftigen schwarzroten Ingelheimer. Die „kalte Küche“, mit der ihn Bärbel empfangen hatte, war ganz vortrefflich gewesen. Die Erinnerung an das Zusammensein mit der bestrickenden Haricourt lag wie ein rosiger Abglanz über dem runden Vollmondsgesicht. Er machte – wie immer nach beendigter Mahlzeit – den Eindruck wunschloser Zufriedenheit und vollkommenster Seelenruhe.

Der Sessel stand etwas erhöht auf einem Tritt von rötlich gebeiztem Kirschbaumholz. Balthasar Noß konnte bequem den dreieckigen Stockhausplatz überblicken, wo jetzt ein frisches, buntfarbiges Treiben herrschte. Am Vormittag hatte es mäßig geregnet. Die Luft war für die Jahreszeit kühl und erquicklich. Aus der Richtung des Gusecker Thors kam eine immer wachsende Schar von Menschen vorüber, heimwärts steuernde Ausflügler und Spaziergänger. Balthasar Noß, die lange Thonpfeife im Mund, schien sich des wechselnden Bildes da drunten aufrichtig zu freuen. Wie er so strahlend und voll gemütlicher Neugier hinabschaute und namentlich die vorbeiwandelnden Frauen und Mädchen musterte, hätte wohl niemand in diesem gutgenährten Spießbürger den allgefürchteten Malefikantenverfolger und Blutrichter vermutet.

Da kam auch Frau Ada, die Ehewirtin des Stadtpfarrers Melchers, mit ihrer schwarzlockigen Tochter Margret. Neben den beiden schritt in kecker, auffallend modischer Tracht der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck.

„Gotts Donner!“ dachte Herr Noß, „der Fuchs da hat keinen schlechten Geschmack! Er scheint das reizende Lachtäubchen gründlich aufs Korn zu nehmen! Die Frau Mutter lächelt und schmunzelt! Und die hübsche Margret schaut so kreuzverliebt zu ihm auf! Man könnte fast neidisch werden.“

Balthasar Noß ward sich jetzt klar darüber, daß er den hochnäsigen Woldemar Eimbeck nicht leiden konnte. Nur zwei- oder dreimal war ihm der Ratsbaumeister begegnet. Aber der Mensch hatte etwas Unsympathisches, Freches …

Erinnerte übrigens diese Margret Melchers nicht lebhaft an die berauschende Haricourt? Das heißt … natürlich … die Margret Melchers war eine Predigerstochter und eine Kleinstädterin! Aber so um die Augen … Was? Nein! Es fehlte ihr doch das eigentümliche Etwas, der unsagbar verführerische Reiz der Schauspielerin.

Und nochmals schweiften seine Gedanken zu der lustsprühenden, anmutsvollen Französin zurück, die er unter so schwierigen Umständen erobert hatte, denn Glaustädt war doch ein kleines Nest und er, der Zentgraf und Vorsitzer des Malefikantengerichts, durfte sich vor dem Urteil der Welt keine Blöße geben.

Balthasar Noß nickte vergnügt vor sich hin. Im stillen zollte er sich das uneingeschränkteste Lob. Wie meisterhaft er die Sache hier eingefädelt hatte und wie vortrefflich ihm alles gelungen war! Immer selbstzufriedener blickte er drein, immer glückseliger. Und da nun die Pfeife ausgeraucht war, legte er sie vorsichtig neben das halbvolle Glas mit dem schwarzroten Ingelheimer, schloß die Augen, faltete die fettglänzenden kurzfingrigen Hände über dem Bauch und fing leise zu schnarchen an.

Da kam die niedliche, dralle Bärbel und tippte ihn mit ehrfurchtsvoller Vertraulichkeit auf den Rücken. Sie trug ein hochrotes ländliches Mieder, das ihre vollen Arme bis an die Schultern freigab. Wie sie so vor ihm stand, ein bißchen zu klein vielleicht, aber doch kernig und frisch wie eine prächtige Klatschrose, da konnte Balthasar Noß ihr mit dem besten Willen nicht gram sein, obgleich sie ihn mitten aus einer lockenden Traumvision aufgeschreckt hatte.

„Ein vornehmer Herr ist draußen,“ meldete Barbara. „Es eilt, sagt er. Er muß Euch sprechen, Herr Zentgraf.“

„So spät noch?“

„Er läßt sich entschuldigen. Ihr wärt doch vor kurzem erst heimgekehrt. Bis morgen hätt’ er nicht warten können.“

„Hat er nicht seinen Namen genannt?“

„Doch. Aber ich hab’ ihn vergessen. Er ist ein Ratsherr und trägt sich gar fein mit Schleifen. Er sagt, daß er schon öfters mit Euch gesprochen hat.“

„So führ’ ihn herein!“

Balthasar Noß erhob sich. Der da im Rahmen der großen Mittelthüre erschien, war kein anderer als der Tuchkramer Henrich Lotefend.

Die beiden Männer begrüßten sich mit formvollster Höflichkeit.

„Verzeiht,“ hub Lotefend an, „wenn ich Euch lästig falle. Aber die Sache, in der ich komme, ist wichtig genug. Ich weiß nicht, Herr Zentgraf, ob Ihr Euch meiner erinnert. Ich lebe seit einiger Zeit äußerst zurückgezogen.

„Wie sollte ich nicht?“ erwiderte Noß verbindlich, denn die Dukaten des Tuchkramers erfüllten ihn mit aufrichtiger Hochachtung. Einen Mann wie Euch braucht man nicht zweimal zu sehen, um sich seine Persönlichkeit dauernd einzuprägen. Bitte, liebwerter Herr Lotefend!“

Er senkte den Kopf und wies auf den breiten Lehnstuhl, der auf der anderen Seite des Trittes dem seinigen gerade gegenüber stand. Während sich Lotefend setzte, ging Balthasar Noß zu dem kleinen Kredenztisch und holte dem vornehmen Gast eigenhändig ein Spitzglas. Die zweite Flasche, die ihm die sorgliche Bärbel nach Leerung der ersten hingestellt hatte, war noch nicht angebrochen.

Nachdem auch der Wirt Platz genommen, füllte er beide Gläser und sagte weltmännisch lächelnd zu seinem unerwarteten Gast: „Ich halt’ es für selbstverständlich, daß Ihr mir einen guten Schluck nicht von der Hand weist. Ingelheimer Auslese, Herr Ratsherr!“

„Nehme ich dankend an. Die Zunge klebt mir am Gaumen, Euer Hochgelahrter wird das nicht wundern, wenn Ihr erfahrt, in welch aufregender Sache ich hier bin.“

„Redet! Eure Gesundheit, Herr Lotefend!“

Beide Männer führten ihr Glas zum Munde. Der Tuchkramer leerte das seinige mit einem langen durstigen Zug. Während der Zentgraf ihm wieder eingoß, begann Herr Lotefend mit seltsam verschleierter Stimme.

„Ich komme wegen der Hildegard Leuthold. Vielleicht wißt Ihr noch nicht …“

„Doch, doch! Ich fand bei der Rückkehr von meiner Geschäftsreise ein Schreiben Xylanders vor, das mich von ihrer Verhaftung in Kenntnis setzt. Der Fall ist bedauerlich. Niemand zollt dem wackern Magister mehr Teilnahme als ich. Aber was kann ich thun?“

„Viel, Euer Hochgelahrten! Da ich von Eurer Abwesenheit gehört hatte, war ich heut’ vormittag bei Doktor Xylander und später bei Holzheuer. Beide haben mich gleichermaßen an Euch verwiesen …“

„Womit?“

„Nun, mit dem dringenden Ansuchen, das ich dem Tribunal unterbreiten wollte. Selbstverständlich kann es mir nicht im Traume beifallen, irgendwie Nachsicht für das Fräulein zu hoffen, dafern sie schuldig ist. Und nach dem, was ich von Doktor Xylander hörte, scheint ja leider ein fast niederschmetterndes Material gegen sie vorzuliegen. Immerhin könnt Ihr das verzweifelte Los der Unglücklichen milder gestalten und viel Schreckhaftes von ihr abwenden …“

„Wie meint Ihr das?“ frug Balthasar Noß lauernd.

„Seht, Herr Zentgraf … seit die Familie Leuthold nach

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