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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hexe von Glaustädt.
Roman von Ernst Eckstein.

(14. Fortsetzung.)

23.

Als Doktor Ambrosius jenseits der Gartenmauer wieder zu Boden gelangt war, wandte er sich keineswegs, wie dies die Rutenknechte voraussetzten, linkswärts, um das Hainthor und die Dernburger Landstraße zu erreichen. Das Einschlagen dieser kürzesten Linie nach dem Stauffheimer Forst hätte aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hetzjagd zur Folge gehabt, bei der die Knechte den Vorsprung des Flüchtlings bald schon vielleicht wieder eingebracht hätten, zumal, wenn sie sich drüben im Gasthof „Zur Tanne“ beritten machten, wie dies neulich beim Ausbruch des tollen Küfers geschehen war. Doktor Ambrosius rannte also im Gegenteile nach rechts und bog dann, seinen Schritt mäßigend, nach dem Harracher Thor ab. Von dort konnte er unschwer die obere Grossachbrücke im Lynndorfer Gehölz erreichen und sich dann über Königslautern und Lynndorf ins Freie retten. Der Weg bis zur Grenze war allerdings hier dreimal so weit als der gerade über den Stauffheimer Forst, aber auch ungleich sicherer.

Ruhig und gemessen überschritt Doktor Ambrosius die kleine Holzbrücke der Glaubach – die nämliche, wo vorgestern bei sinkender Dämmerung Herr Lotefend Rast gehalten und noch immer voll Hoffnung hinübergelugt hatte nach dem versteckten Strohdach des Klippengehöfts. Die Pferde des Tuchkramers standen dort immer noch marschbereit. Durch die lautlose Stille des Morgens vernahm Doktor Ambrosius deutlich ihr unruhiges Gestampfe, ohne sich träumen zu lassen, wie das Klippengehöft mit Hildegard Leuthold zusammenhing. Doktor Ambrosius kannte den Bauern persönlich. Im vorigen Frühjahr hatte er ihm das Reißen im Kreuz kuriert. Sofort zuckte ihm der Gedanke durchs Hirn, den Mann sprichst du um einen Gaul an! – Er konnte sehr wohl eine plötzliche Fußverstauchung oder was sonst vorschützen und seine frühzeitige Anwesenheit auf der Harracher Flur durch einen Krankheitsfall in der Nachbarschaft rechtfertigen.

Gedacht, gethan. Er bog die zehn Schritt vom Weg ab und trat langsam in das Gehöft, dessen Thor schon geöffnet war. Der Klippenbauer stand mit unwirschem Blick vor der großen viereckigen Mistgrube und schien über irgend etwas recht Unerbauliches nachzudenken. Bei dem gellenden Anrufe des jungen Arztes fuhr er zusammen wie ein Ertappter. Doch hörte er die Bitte, die Doktor Ambrosius ihm vortrug, mit ruhiger Höflichkeit an, um sie sofort abzulehnen. Die paar Pferde brauche er unumgänglich zur Ernte. Es thue ihm schwer leid, einem so achtbaren Herrn, dem er dazu noch Dank schulde, nicht dienen zu können.

Der Klippenbauer, von dem für Geld alles zu haben war, hätte sich wegen der Ernte gewiß nicht gesträubt, wenn sein Gehöft überhaupt Gäule besessen hätte. Selbst der angebliche Kauf der drei Pferde Lotefends war dem Hausgesind gegenüber nicht für die Landwirtschaft, sondern im Hinblick auf einen vorteilhaften Wiederverkauf erfolgt. Der Klippenhof ackerte seit Menschengedenken mit Zugochsen.

Etwas enttäuscht, machte Ambrosius kehrt und setzte die Wanderung nach Harrach zu fort. Dann bog er vom Weg ab. Die Gusecker Landstraße, die er jetzt eine Viertelstunde lang einhalten mußte, war schon ziemlich belebt. Bauern mit Karren und Handwagen, Weiber mit Körben, Säcken und Holzkiepe eilten geschäftig der Stadt zu. Von dem kreuzgeschmückten Turm der Marienkirche schlug es halb Fünf. Doktor Ambrosius zuckte zusammen.

Der altvertraute, heimische Klang, der so weich dröhnend durch die lauliche Luft schwirrte, brachte ihm die Trostlosigkeit seiner Lage wieder voll zum Bewußtsein. Die Turmuhr von Glaustädt, die ihm so manche Stunde klarbefriedigter Arbeit und glückseliger Hoffnung geschlagen hatte, verkörperte ihm jetzt alles, was er da hinter den grauen Stadtmauern zurückließ. Trostloser Kleinmut überwältigte ihn. Kehr’ du nur gleich wieder um! – so schien dieser lang verhallende Ton ihm zuzurufen, Dich und dein Leben zwar kannst du in Sicherheit bringen; aber was frommt dir’s? Besser, du schaust noch einmal die Wonnen, und giebst dir dann selber den Tod! – Da fiel ihm der kleine bucklige Notar Weigel ein und mit ihm die zahlreichen Freunde und Gesinnungsgenossen, die er in Glaustädt besaß, und die Freunde in Dernburg, die vielleicht doch Mittel und Wege fänden, dem Entsetzlichen vorzubeugen. Was hatte man nicht während der letzten Wochen alles geplant und geprüft! Jetzt, wo für ihn, der doch mit Woldemar Eimbeck die Seele der ganzen Verbrüderung war, so unendlich viel davon abhing – konnte man da nicht zu Entschließungen kommen, die rascher wirkten? Es war nicht das erste Mal, daß eine langer Hand vorbereitete und wohlüberlegte Verschwörung vorzeitig losbrach – und dennoch ans Ziel führte …

Und wie er dies dachte, hob er unwillkürlich die gesenkte Stirn. Von neuem strafften sich ihm die Muskeln, sein Atem ging lebhafter, und mit wachsendem Ungestüm schritt er vorwärts. Um Hildegards willen mußte er aushalten bis zuletzt!

Von Zeit zu Zeit blickte er sich vorsorglich um. Niemand verfolgte ihn. Was sich da über die Landstraße bewegte, schlug fast ausnahmslos die Richtung zur Stadt ein. Die Knechte des Tribunals hatten, wie er vorausgesetzt, seine Spur verloren.

Als er dies eben vielleicht zum sechstenmal mit heißer Genugthuung feststellte, sah er zu seinem unbeschreiblichen Schrecken die Gestalt eines städtischen Rutenknechts nur wenige Schritte vor sich. Der stämmige Mensch trug im Gürtel die kurze Stoßwaffe. Er schritt langsam und gleichmütig daher wie einer, der lustwandelt.

Doktor Ambrosius glaubte sich schon verraten und griff in die Brusttasche, wo sein dreischneidiger Dolch steckte. Er war gewillt, sich um jeden Preis auf Leben und Tod zu verteidigen.

Da bemerkte er, daß der Rutenknecht nicht allein ging. Unmittelbar hinter dem breitschulterigen Kerl, bis jetzt durch ihn verdeckt, kam ein hohlwangiges bleiches Männlein mit kleinen, blinzelnden Augen und scharf gebogener, spitziger Adlernase: der Malefikantenrichter Adam Xylander. Die beiden gehörten augenscheinlich zusammen, also war die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Bursche da einer von den drei Knechten war, die den Arzt hatten verhaften wollen.

Doktor Ambrosius faßte sich schnell. Er grüßte mit Artigkeit und wollte ruhig und gleichgültig an Xylander vorbeischreiten.

Der aber stellte ihn. „Halt, Verehrtester!“ sprach er in halber Verlegenheit, während der Stadtknecht noch ein paar Ellen weiter ging. „Ihr wundert Euch offenbar, daß ich Euch hier so frank anrede? Aber ein ehrlicher Mann ist lobenswerter als ein verstockter. Bertha – Ihr kennt sie ja, meine fürsorgliche Nichte – hat mir unausgesetzt in den Ohren gelegen, daß ich an Euch übel gehandelt, und zwar augenscheinlich zu meinem größten Nachteil.

Adam Xylander in seiner blöden Weltabgeschlossenheit wußte nichts von den freundschaftlichen Beziehungen des jungen Arztes zu Engelbert Leuthold, geschweige denn von dem Gerücht, das den Doktor Ambrosius als stillen Bewerber um Hildegards Hand bezeichnet. Er ward jetzt beinahe zutraulich.

„Seht Ihr,“ fuhr er mit einem garstigen Grinsen fort, das seine gelben Zähne bis an die Wurzeln entblößte, „seit gestern früh schon kämpf’ ich den Kampf mit der besseren Einsicht … Und heute nacht hab’ ich mir’s vorgenommen … Ich wollte Euch noch vor Mittag zu mir bitten …“

„Sehr verbunden!“ sagte Ambrosius.

Adam Xylander klopfte ihm auf die Schulter.

„Thut nicht so, als ob Euch an meiner Kundschaft gelegen wäre! Das heißt die Höflichkeit übertreiben. Aber mir brennt’s auf dem Nagel. Damals, eh’ ich auf’s Land ging, habt Ihr mich wunderbar erfolgreich behandelt. Und Bertha hat recht, was könnt Ihr denn dafür, daß Ihr zufällig im Hause der Malefikantin wohnt? Also verzeiht mir, liebwertester Herr, und laßt mir noch einmal Euren ärztlichen Rat zu teil werden!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_576.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)