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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

der die geweihte Person des hochmögenden Zentgrafen und Malefikantenrichters meuchlings angefallen und beinahe erwürgt hatte. Der geleistete Schwur wog dem racheschnaubenden Mann federleicht, auch ohne daß er der Beschwichtigung bedurft hätte, ein abgenötigter Eid sei kein Eid und Verrätern und Missethätern brauche der christliche Staatsbürger nicht Wort zu halten. Den ingrimmigen Haß aber, den Balthasar Noß für Doktor Ambrosius fühlte, ließ er nun mit verdreifachter Wucht an den unglücklichen Opfern aus, die in den Zellen der Malefikantenabteilung schmachteten.

Was Hildegard Leuthold betraf, so nahm er hier während der ersten Zeit noch einige Rücksicht auf Lotefend, der noch einmal sein Heil bei dem Mädchen versuchte. Da sie ihn wieder zurückwies – noch verletzender als das erste Mal – packte den Tuchkramer eine blindwütige Raserei. Er hatte es wahrlich gut mit ihr gemeint! Sie hätte an seiner Seite ein Leben voll Glanz und Wonne genießen können! Und sie verschmähte ihn – um des elenden, hohlköpfigen Fantes willen! Mochte sie denn hilflos in ihrer Halsstarrigkeit zu Grunde gehen! Sollte er – Henrich Lotefend – wie ein feigmütiger Hund Verzicht leisten – und sie trotzdem erretten? Sollte er Zeuge sein, wie die Befreite sich von ihm abwandte und sich dem Nebenbuhler glückberauscht an den Hals warf? Der bloße Gedanke brachte ihn fast zum Wahnsinn.

Als er das Stockhaus verließ, war sein Entschluß gefaßt. Er gab Hildegard Leuthold nun endgültig auf. In heißem Vernichtungszorn machte er sämtliche Vorbereitungen rückgängig. Er lohnte den Kerkermeister Hans Godwin ab, der noch am nämlichen Tage dem Stockhausverwalter den Dienst aufsagte. Er schenkte dem ungeduldig harrenden Klippenbauer die drei Pferde nebst einer stattliche Barsumme. Dann verfügte er sich zu Balthasar Noß und that ihm zu wissen, jeder Versuch, die Beschuldigte zum Geständnis zu bringen, sei fruchtlos gewesen.

Nunmehr ging Balthasar Noß ohne Rückhalt ins Zeug. Der Antrag des Notars Weigel um etliche Wochen Frist, behufs Vorbereitung einer sachgemäßen Verteidigung, war gegen die einzige Stimme Adam Xylanders abgelehnt worden. Man hatte dem kleinen buckligen Rechtsgelehrte überhaupt nur ein einziges Mal – auf die besondere Verwendung des Bürgermeisters Georg Kunhardt hin – den Zutritt zur Inkulpatin gestattet, und auch dies nur für den Fall, daß sich Herr Weigel die Gegenwart des Beisitzers Adam Xylander gefallen lasse. Adam Xylander befliß sich bei dieser Gelegenheit einer fast wohlwollenden Haltung, dieweil er sich ja persönlich von der Malefikantin verfolgt glaubte und doch beileibe nicht rachsüchtig erscheinen wollte. Im Widerspruch mit der Verfügung des Tribunals blieb er während der kurzen Besprechung Weigels und Hildegards draußen im Korridor. So fand Weigel die Möglichkeit, seiner Klientin unbelauscht die nötigen Ratschläge zuzuflüstern.

„Wenn Ihr vertraut,“ sagte er eindringlich, „daß ich ein Ehrenmann und Euer wohlmeinender Freund bin, so bekennt Ihr unzögernd alles, was man Euch abfragt! Kein vernünftiger Mensch glaubt ja an Eure Schuld – aber gesteht! Das erspart Euch die Folter. Nutzen würde das Leugnen doch nichts. Erst wenn Ihr verurteilt seid, kann ich hier mit Erfolg eingreifen. Das klingt rätselhaft, aber es ist so. Ich lege Euch dann im letzten Augenblick eine Urkunde vor, die beim Reichskammergericht Protest erhebt. Diese Protesturkunde zieht einen Aufschub von sechs bis acht Wochen nach sich. So gewinnen wir Zeit. Auch Doktor Ambrosius hat diesen Plan gutgeheißen.

Hildegard hatte sich an der ruhigen, tiefernsten Art Rolf Weigels merkwürdig aufgerichtet. Bei dem Verhör, das drei Tage darauf stattfand, befolgte sie seinen Rat rückhaltslos – zum größten Erstaunen des Balthasar Noß und zur wärmsten Befriedigung Adam Xylanders, der fest überzeugt war, das fromme und mannhafte Zureden Lotefends habe nun doch nachträglich seine Früchte gezeitigt.

Schon gewann es den Anschein, als würde die Sache sich vollständig so abspielen, wie Rolf Weigel dies vorgesehen: ein ausgiebiges, glattes Geständnis und danach die mildere Form der Verurteilung. Wie nun aber der Vorsitzer bei der dritten Vernehmung das übliche Ansinnen stellte, Hildegard solle Mitschuldige namhaft machen, versetzte sie kurz und standhaft. „Ich weiß von nichts.“

Sie verharrte bei dieser Aussage selbst dann noch, als Noß, erbittert über den ruhigen Stolz ihres Blickes, den Knechten winkte. Auf die Verwendung Adam Xylanders hin glaubte das Tribunal jedoch, von der Torquierung Umgang nehmen zu sollen. Adam Xylander vertrat hier wiederum die schon mehrfach geäußerte und bethätigte Ansicht, man dürfe gerade im vorliegenden Falle nicht zu mitleidslos vorgehen, damit es nicht aussehe, als ob er, der schwer geschädigte Beisitzer, ein persönliches Moment in den Prozeß hineintrage. Uebrigens habe sich die Inkulpatin geradezu als ein Unikum schätzbarer Willigkeit und Wahrheitsliebe jetzt gezeigt, daher man ihr glauben könne, daß ihr Gedächtnis sie bezüglich des einen Punktes wirklich im Stiche lasse. Es sei dies vielleicht die Rache Beelzebubs, der die treulos gewordene Malefica schädigen wolle, weil sie – im Widersprach zu den eingegangenen Verpflichtungen gegen die Hölle – auf sämtliche Fragen so bußfertig Ja geantwortet.

Da Balthasar Noß ohnehin wünschte, die Strafsache gegen Hildegard Leuthold thunlichst schnell zum Abschluß zu bringen – er hegte die unklare Furcht, Doktor Ambrosius und der Notar Weigel möchten ihm irgend was in den Weg legen – so stimmte er diesen Erörterungen Adam Xylanders großmütig bei. Hildegard Leuthold ward abgeführt.

Am folgenden Tage fällte das Tribunal einstimmig das Verdikt. Schuldig. In Anbetracht des offenen Geständnisses sollte die Hexe nicht lebendig verbrannt, sondern zuvor durch das Schwert vom Leben zum Tode gebracht werden. Der Gerichtsschreiber fertigte mit kunstvollen Schnörkeln die Verdammungsurkunde aus, die Richter unterzeichneten sie, und Balthasar Noß drückte in würdevoller Bedächtigkeit sein großes Insiegel darauf.

Hildegard Leuthold litt inzwischen unsäglich.

Die Zweckmäßigkeit der Weigelschen Ratschläge wurde ihr, bei allem Vertrauen zu dem Notarius, nach längerem peinlichen Nachdenken doch fraglich. Daß es für den Ausgang ihres Prozesses gleichgültig war, ob sie gestand oder nicht, das wußte sie längst. Aber daß die Schritte zu ihrer Rettung besseren Erfolg versprachen, wenn man sie erst nach geschehener Verurteilung that – diese verzwickte und nur durch die willkürlichste Beugung des Rechts ermöglichte Sachlage schien ihr mit jedem Augenblick unbegreiflicher.

Zuletzt gewann sie die Ueberzeugung, Rolf Weigel selber sei vollständig hoffnungslos, er habe ihr nur die Pein abkürzen und ihr eine betrügliche Kraft mit auf den Weg geben wollen.

Der Kampf der Verzweiflung aber, der ihr so stürmisch die Brust durchtobte, währte nur kurze Zeit. Dann stumpfte sich alles ab in ruhige, willenlose Ergebung. Sie war nun mit sich und der Welt fertig. Von dem Notar wußte sie, daß ihr Vater noch immer todsterbenskrank lag, und daß Doktor Ambrosius vom Tribunal verfolgt, aber glücklich entkommen war. Es erfüllte sie anfangs mit unendlichem Weh, daß sie die beiden geliebten Menschen nicht noch einmal ans Herz drücken und ihnen sagen durfte, wie sie noch in der letzten Minute ihrer gedenken und die Liebe zu ihnen mit hinaufretten würde ins Reich der Verklärung. Dann aber fand sie sich auch mit dieser Schicksalsfügung zurecht. Gott der Allmächtige hatte es so gewollt. Seine himmlische Huld würde die teuren Vereinsamten trösten und den wühlenden Schmerz mit der Zeit mildern. Vielleicht – und beinahe wünschte sie das – nahm Gott ihren Vater bald zu sich. Es dünkte ihr schon eine himmlische Wohlthat, daß ihm die Glut des Fiebers jetzt gerade den Geist umnachtete. Gustav Ambrosius aber war noch so jung! Der konnte von diesem Leid noch genesen – und nach Jahren vielleicht glücklich werden im Besitz einer andern …

Sie betete viel während dieser entsetzlichen Zeit. Das Bild ihrer verstorbenen Mutter, das ihr damals in jener glücklich-seligen Abendstunde nach der Verlobung so greifbar lebendig vor die Seele getreten war, umschwebte sie jetzt zu allen Stunden mit seiner trostreichen Allgegenwart.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_579.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)