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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Gertrud folgte seinem Wunsch, mit noch immer versteinertem, nach einem Lächeln ringendem Gesicht. Jetzt sah sie aber die ersten Gäste, im strahlend hellen großen Saal. Mit dem Tod im Herzen! dachte sie noch einmal, dann fühlte sie, sie hatte gesiegt, sie konnte wieder lächeln. Und von ihm lass’ ich nie! war ihr letzter persönlicher Gedanke. Von nun an war sie nur noch eine junge Dame aus der guten Gesellschaft, die einen Ball giebt, ihren ersten Ball. Sie stürzte sich ins Leben hinein.

Die Säle füllten sich rasch, Gäste über Gäste kamen. Auch Schilcher, in Frack und weißer Krawatte, stieg seine Treppe hinunter; er pfiff sich ein Liedchen. Er hatte eigentlich einen stillen, grimmigen Haß auf diese geschniegelten und gebügelten Tanzfeste, aber heute freute er sich mit aller Gewalt, weil seine Trudel sich freute. Ihm war nun wie wenn er aus einem Traum erwachte, als er bei Rutenbergs ins Vorzimmer kam und dort Doktor Wild stehen sah, der eben seinen Ueberzieher abgelegt hatte und vor den Spiegel trat, um an seiner kleinen schwarzen Halsbinde zu rücken. Schwarze Krawatte? fragte er sich. Wild in schwarzer Krawatte? – Gut, daß ich das noch gesehen habe. Man kommt also heute schwarz!

Der kleine, so oft zerstreute Herr trat geschwind zurück. Wild hatte ihn doch noch, im Spiegel, gesehen. „Schilcher!“ rief er. Schilcher hörte nicht mehr, wollte nicht mehr hören. Auf seinen noch immer sehr rüstigen Wanderbeinen stieg er die Treppe wieder hinauf.

Das hätt’ ich auch wissen können! dachte Wild, der Schilchers weiße Krawatte gesehen hatte. Wenn auch Rutenberg gestern sagte: „Es wird ein gemütlicher Familienabend“, ’s ist doch ein wirklicher richtiger Ball. Na, mir kann nichts geschehn! Immer vorbereitet! Er sah sich allein, die Gäste waren alle schon drinnen. Behaglich wie immer, sich Zeit lassend, nahm er die schwarze Binde ab, zog die weiße Binde, die er, schön in Seidenpapier gewickelt, stets in der Rocktasche hatte, aus ihrem Nest hervor und legte sie mit aller Sorgfalt um. Niemand störte ihn. Er stand noch, sein Werk im Spiegel betrachtend, als der hurtigere Schilcher aus seinem Oberstock zurückkam. Wild wandte sich und sah den Oberappellationsrat sehr verwundert an, dessen weiße Binde war schwarz geworden.

Schilcher machte ein ebenso verdutztes Gesicht. „Was haben Sie da?“ fragte er. „Was ist das? – Wild, Ihre Krawatte war ja doch eben schwarz?“

„Ja was haben denn Sie gemacht?“ fragte Wild dagegen. „Sie waren weiß und sind schwarz geworden?“

„Aha!“ sagte Schilcher dem ein Licht aufging. „Weil Sie mich – – weil ich – –“

„Nun ja!“

„Darum haben Sie – –“

„Und Sie auch!“ gab Wild zurück. Sie brachen beide in Lachen aus. Wild hell, Schilcher tief.

Rutenberg, der als Hausherr alle Gesichter begrüßt, alle Hände gedrückt hatte – Spießrutenlaufen! war sein Gefühl – hörte dieses lustige, wohlbekannte Lachen aus dem kleinen Vorsaal, durch die jetzt offene Thür, und kam heraus. „Was habt ihr?“ fragte er, mit seinem krampfhaft heitern Gesicht. „Worüber lacht ihr?“

Wild trat auf ihn zu: „Das ist die Geschichte von einer schwarzen und einer weißen Krawatte …“ Er lachte wieder.

„Wie können Sie mich so konfus machen!“ rief nun Schilcher aus. „Ich war ja in Ordnung! Heute ist ja Ball!“

Er ging wieder aus der Thür, ins Treppenhaus, und man hörte ihn auf seinen Stufen.

„Schwarze und weiße Krawatte,“ sagte Rutenberg zu Wild „… ich verstehe kein Wort.“

„Das verdeutsch’ ich dir später,“ entgegnete der Doktor dem die humoristischen Augen glänzten, „jetzt muß ich in die Festsäle, Rutenbergs schöne Tochter anschauen und die andern Schönen.“ Im sicheren Hochgefühl der vorschriftsmäßigen Krawatte … Dieser Schilcher!

Noch einmal auflachend ging er in den Vorsaal und weiter. Rutenberg sah ihm nach, zum erstenmal im Leben mit einer Art von Neid; wie diese Leute lachen können! dachte er. Die haben keine Töchter! – Ihm war, als hätte er in seinen Sälen und Zimmern tausend Menschen gesehen, und mit allen tausend gesprochen. Und so ums Herz herum lag ihm das Gefühl: wär’ es erst vier Uhr morgens und ich läg’ im Bett!

Wo bleibt Schilcher? durchfuhr ihn dann wieder. Wo bleibt dieser Schilcher? – Sein Unglück, deuchte ihm, war erst halb, solange er es nicht mit Schilcher geteilt hatte. Die Unruhe in ihm ward zu groß, er ging aus seiner Wohnungsthür hinaus und stieg die halbe Treppe hinan. „Schilcher! Schilcher!“ rief er, da er endlich ein paar Stiefel oben knarren hörte.

„Komme schon, komme schon!“ rief der etwas holzige Baß zurück. Schilcher kam herunter. „So,“ sagte er heiter und deutete auf seine weiße Krawatte, die er wieder angelegt hatte, „so, jetzt kann ich tanzen! – Was ist dir? Was treibst du dich hier draußen herum? – Du stöhnst?“

„Es ist aus, Schilcher“ seufzte Rutenberg.

„Na na na! – Was ist aus?“

„Ich war zu glücklich, Schilcher“, sagte Rutenberg und ergriff ihn am Arm. „Nennt mich nicht mehr glücklich! Ich bin ein geschlagener Mann. Ich bin vernichtet, Schilcher –“

„Oha! Was ist denn geschehn?“

„Gertrud – – das glaubst du nicht!“

„Nun? Was ist mit ihr?“

„Meine – unsere Gertrud –“

Brink erschien unten an der Treppe, auf der sie noch standen. Sein sorgenvolles Gesicht schaute hinauf: „Fräulein Gertrud läßt fragen, Herr Rutenberg, ob man noch nicht anfangen soll, zu tanzen.“

„Tanzen!“ rief Rutenberg. „Natürlich! Gewiß! Gewiß soll man tanzen! Musik, Ball – nur vorwärts!“

Brink ging in die Wohnung zurück. „Du bist ja wieder in einer deiner schönsten Aufregungen,“ sagte Schilcher mit seiner regungslosen Kaltblütigkeit, denn sobald er den andern überschäumen sah, ward er selber noch ruhiger. „Was giebts also? Unsere Gertrud –“

„Unser ,Kamerad‘! unser Mitmensch! Meine kluge, feine, romantische, schwärmerische Tochter – Schilcher, es ist zu viel!“ – Er packte wieder seinen Arm und drückte ihn.

„Es wär aber doch besser,“ raunte Schilcher der still hielt wie eine Puppe, „du sprächst dich aus, als daß ich gar nicht erfahre, was los ist. Also was hat Gertrud –“

Unten an der Treppe ward es wieder lebendig; diesmal kam der schlanke, hochbeinige Arthur van Wyttenbach aus der Rutenbergschen Wohnung heraus, mit seinem leichten Geschwindschritt. Er lächelte etwas aufgeregt, aber höchst verbindlich „Entschuldigen Sie Herr Rutenberg! Ich komme im allerhöchsten Auftrag!“

Schilcher fühlte an seinem Arm, wie Rutenberg zuckte, er hörte ihn auch ein paar Silben murmeln, die er nicht verstand. „Sie wünschen, Herr van Wyttenbach?“ fragte dann aber der Hausherr mit äußerster Höflichkeit.

„Ich komme im Auftrag der Damen, sie wollen selbstverständlich die Polonaise nicht anfangen, so lange nicht der Hausherr – der ewig junge – –“

Rutenberg stieß wieder einen unverständlichen Laut aus. „Die Polonaise!“ rief er dann. „Natürlich … Was mach’ ich denn, ich vergesse die Polonaise, die ich anführen soll. Na, das ist denn doch – – Ich komme! Ich komme!“

„Die Damen werden glücklich sein!“ rief Wyttenbach hinauf.

Rutenberg stieg eine Stufe hinunter, dann wandte er sich zu Schilcher zurück. „Diesen deinen Hansquast da,“ flüsterte er, „den liebt unsre Gertrud. Verstehst du. Und wenn sie ihn nicht heiraten soll, will sie nicht mehr leben … Ich komme!“ wiederholte er, überlaut, mit einer wilden Heiterkeit, die gar keinen Sinn hatte. „Auf zur Polonaise! –“ Mit ein paar Sprüngen war er unten und stürmte mit dem graziös lächelnden Wyttenbach in sein Vorzimmer hinein.

8.

Die Musik hatte längst begonnen, durch die noch offen gebliebene Wohnungsthür konnte man sie hören. Schilcher stand immer noch auf derselben Treppenstufe. Er rührte sich nicht. Im Anfang war er wie betäubt, dann lehnte er sich dagegen auf, wie gewöhnlich. Endlich glaubte er kein Wort mehr, oder stellte sich doch, als glaube er keins. So ein Unsinn, brummte er vor sich hin. Rutenberg phantasiert. – Das phantasiert Rutenberg. So was giebt’s ja nicht …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_703.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)