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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Minuten, die Du an meinem Bett gesessen hast, nachdem der Kleine geboren war, kann ich unmöglich mitrechnen. Jetzt ist Düttila acht Monate alt und Du weißt noch nicht, wie er aussieht. Das kleine, verquatschte Ding von damals, acht Tage lang, schlafend, immer schlafend, bis an die Nasenspitze zugedeckt, das gilt schon lange nicht mehr. Ich weiß ja, daß man mit Dir nicht so streng rechnen darf. Aber es thut mir doch beinahe ein bißchen weh, daß Du es übers Herz bringst, Dich so lange nicht um uns zu kümmern. Von einem Bekannten, der Deinen Mann gesprochen hat, hörte ich, daß Du schon seit drei Wochen von der Reise zurück bist. Solltest Du wirklich noch kein halbes Stündchen für uns übrig gehabt haben? Ich könnte ja mit Dir schmollen und sagen: laß sie laufen. Aber das will ich eben nicht. So schelte ich Dich lieber aus. Du weißt ja, wie es gemeint ist. Ich kenne Dich doch nun schon so viele Jahre, und wenn auch immer Lücken dazwischen gewesen sind, und wenn ich auch in letzter Zeit wenig Herzensfreude. an Dir gehabt habe – wofür Du ja nichts kannst – Treulosigkeit wäre das allerletzte, was ich Dir zutraute! Fühlst Du Dich zu wenig wohl, um zu mir zu kommen, so will ich Dich gern besuchen; obwohl Du weißt, daß ich es immer viel gemütlicher finde, wenn Du bei mir bist. Hier haben wir ja doch vor allen Dingen die Kinder! Von Düttila sage ich Dir absichtlich nichts. Du sollst ihn selber sehen. Heidi hat Dich noch nicht vergessen, wenigstens kennt er recht gut Dein Bild im Album. Ist das nicht lieb von dem kleinen Kerl? Schade, daß Du sein Entzücken über die drei Lichtchen auf seiner kleinen Geburtstagstorte neulich nicht hast sehen können. Aber Du warst noch verreist, sonst hätte ich Dich feierlich eingeladen. Er sagt übrigens jetzt schon lange nicht mehr ‚Tananna‘, sondern ganz ordentlich ‚Tante Hanna‘. Du wirst Dich überhaupt wundern, wie er sich entwickelt hat. Otto läßt Dich herzlich grüßen. Er hat sehr viel zu thun, worüber er seelenvergnügt ist. Heidi will auch immer ‚Maschinen malen‘ wie Papa, aber seine Räder werden Eier und seine Schornsteine fallen um.

Nun höre ich auf. Ich wollte Dir fünf Scheltworte schreiben, und nun ist ein fünf Seiten langer Schwatzbrief daraus geworden. Otto würde sagen: Dafür bist du eben ein Frauenzimmerchen. Also nun sei nett und lieb und komm' und zwar bald! Wir sehnen uns alle nach Dir.“

Deine treue, alte Helene“     

„Gutes, kleines Ding,“ sagte Hanna leise vor sich hin und schob den Brief, den sie noch einmal – jetzt erst in Ruhe – gelesen hatte, in den Umschlag zurück. Müde stützte sie den Arm auf den Schreibtisch, an dem sie saß, und legte die Stirn in die Hand.

Ob es mein Wille ist, daß wir uns auseinanderleben sollen? Freilich ist es mein Wille, schon lange. Nur, daß ich ihn nicht durchsetze bei dir, daß ich gegen deine sanfte, zähe Treue nicht aufkomme. Ich kann dir ja auch den Grund nicht sagen. Ich muß auf meiner Schattenseite bleiben, wenn ich mir die nötige Ruhe bewahren will. In deinem warmen Sonnenschein wird mir sonst unsinnig zu Mute. Er tröstet nicht, er thut weh. Er wärmt nicht, er zündet Fieber in mir an, er macht mich krank. Ich darf auch deine Kinder nicht sehen. Von Heidis süßem Stimmchen zittert mir das Herz. Tagelang, wochenlang werd' ich seine schimmernden Augen nicht los. Das geht ja nicht, das geht ja nicht. Und nun ist da noch eines, das auf dem Kissen liegt und strampelt mit seinen runden Beinchen, und so weiche Haut hat wie ein Blumenblatt, und das jubelt und kräht, und mich mit seinen Händchen ins Gesicht patscht, wenn ich mich darüber beuge – –

Sie legte den Kopf auf die verschlungenen Arme und weinte bitterlich. Aber nicht lange. Sie war es schon sehr gewohnt, sich zu beherrschen. Also dann morgen, schloß sie, traurig ergeben. Auf diesen Brief kann ich nichts anderes thun.

Sie zog nun mit einiger Hast das Wirtschaftsbuch heran, das ihr Pauline bereit gelegt hatte, und vertiefte sich, vor sich selber flüchtend, in den Kostenüberschlag der letzten Woche. Damit fertig, begann sie mit der Durchsicht eines Stapels kleiner blauer Hefte, die sie einzeln aus dem geöffneten Seitenfach des Schreibtisches nahm. Sie enthielten die sorgsam verzeichneten Personalien ihrer sämtlichen Schützlinge. Im Lauf der Jahre hatte sie ihre Armenpflege, die damals gelegentlich des gebrochenen Knöchels von Gärtnerfritzchen ihren harmlosen Anfang nahm, planmäßig geordnet. In einem Adreßbüchelchen, das stets zu oberst liegen mußte, befand sich das Wohnungsregister. Jeder einzelne der Klienten, oder er mit seiner Familie, war in einem besondern Heft mit ausführlichem Nationale eingetragen. Der Name auf dem Deckel verhalf zur alphabetischen Ordnung, Geburts-, Krankheits-, Sterbefälle wurden treulich vermerkt ebenso das Datum und die Art der jeweilig empfangenen Unterstützung, die häufiger in sorgsam ausgewählten Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln als in barem Gelde bestand. Ein anderes Fach des Schreibtisches enthielt den nun schon recht ansehnlichen Packen von Sparkassenbüchern, deren jedes Kind ihrer „Bettelfreundschaft“, wie Ludwig sie liebevoll bezeichnete, eines besaß und die zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zum Geburtstag des kleinen Eigentümers, ihre bestimmte neue Zuzahlung bekamen. Dadurch daß Hanna die Bücher selbst in Verwahrung behielt, schützte sie die Leute vor der Versuchung, zur unrechten Zeit Gebrauch von dem Gelde zu machen, das bestimmt war, bis zur Konfirmation anzuwachsen um dann beim Eintritt in Lehre oder Dienst die nötigen Anschaffungen zu erleichtern.

In dieser planmäßigen, ausführlichen und intimen Art der Armenpflege strebte Hannas empfindliches und stets gequältes Gewissen sich zu entlasten. Durch die persönliche Bekanntschaft mit den einzelnen Verstoßenen des Geschicks, durch die unmittelbare Teilnahme an ihren Kümmernissen suchte sie dem Schuldbewußtsein das sie mit ihrer Geldheirat auf sich genommen hatte, ein Gegengewicht zu bieten. Mit der Zeichnung großer Summen in öffentlichen Sammellisten fühlte sie sich persönlich nicht losgekauft von der Verpflichtung, die der Beste dem Reichen auferlegt. Nach dieser Richtung that ja auch Ludwig, „ihr Geldsachen immer nobel, in großem Umfange das Seinige. Ueber ihre „verrückte und sentimentale Art“, die Sache anzufassen, spottete er zwar unausgesetzt, ließ sie aber gewähren, da sie keine ihrer sonstigen Verpflichtungen darüber versäumte. Daß sie sich, in ihrer unbesiegbaren Scheu vor fremden Menschen, standhaft weigerte, irgend einer gemeinnützigen Vereinigung beizutreten, fand natürlich seine Billigung, er hätte ihr andernfalls nichts dergleichen erlaubt. Wofür sie den Ueberschuß ihres reichen Taschengeldes verwendete, interessierte ihn nicht, so lange er an ihrer persönlichen Eleganz nichts auszusetzen fand. Von irgend einer Teilnahme an dem, was sie that, war freilich nicht die Rede, aber sie erfuhr hierin wenigstens keinen Eingriff. Die wehmütige Freude an der Linderung fremder Not war die einzige, die er ihr noch nicht verdorben hatte.

Hanna war mit der Durchsicht fertig. Mehreres hatte sie noch einzutragen gehabt nach der Reise. In ihrem kleinen Notizbuch standen die Anschaffungen und Bestellungen vermerkt, die nötig geworden waren und die in den nächsten Tagen, noch vor dem Breslauer Besuch, erledigt werden mußten.

Zögernd blätterte sie zurück bis zu der Seite, auf der Günther heute den Buchtitel aufgeschrieben hatte. Sie betrachtete den Namen, den sie nun seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, sie sprach ihn laut vor sich hin, Arnold Rettenbacher. – Es erging ihr seltsam. Von dem wehen, heißen Zucken, das früher durch sie hingegangen war, wenn sie an den verlorenen Freund gedacht hatte, verspürte sie heute nichts mehr. Nur wie ein „Traum geliebter Schmerzen“ klang leise ein Ton in der Tiefe ihrer Seele auf, ein Ruf, ein fragender. Sie horchte auf ihn mit dem bittern Lächeln leidvoller Verwunderung. So fern war das schon? So ganz dahinten im Dämmer? So tief verschüttet? Wer hatte das gethan? Die Zeit! Das Leben! Die Zeit mit ihrem stäubenden Flugsand, der sacht in alle Fugen dringt, allmählich Schicht auf Schichten häufend, Grabhügel wölbend. Das Leben, das nicht fragt: Bist du müde? thut's noch weh von gestern? das frische Wunden unweit brennender Narbe reißt, das immer neue Lasten häuft auf mattgebeugte Schultern, das tröstend sagt: Sieh doch, wie stark du bist, das alles trägst du, auch dies, und dies noch. Und sinkst noch nicht zusammen. Noch lange nicht. Und über das von damals – weißt du noch? – hast du so bitterlich geweint. Das thätest du heute nicht mehr. – –

Nein, über das von damals heute nicht mehr.

So alt also war sie in diesen fünf Jahren schon geworden. Was sie heute gepackt und geschüttelt hatte, als sie mit Günther sprach, war nicht das Zittern schwer bekämpfter Schmerzen gewesen, sie wußte es wohl. Nur wie durch ein aufgesprungenes Thor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_759.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)