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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Mein kleiner Junge, mein süßer kleiner Junge …“ Er setzt ihn nieder und nimmt den andern auf. Seine Augen sind feucht. Ein bitterer Gedanke zuckt ihm durch den Sinn: „Tiere geben ihre Jungen nur ums Leben von sich … und ihr …“

„Papa, war das etwa der Weihnachtsmann, der bei dir war?“ fragt da Edi.

„Freilich.“

„Er hat doch eine rote Dienstmannsmütze auf, Hedwig, keine Pelzmütze,“ sagt der kleine Mann triumphierend. „Haben die Kinder gegessen?“

„Ja, Herr Binder.“

„Dann sollen sie jetzt beschert bekommen. Mir bringen Sie nachher ein paar Butterbrote und eine Flasche Bier ins Zimmer, jetzt bleiben Sie noch eine Weile bei den Kindern. Also wartet recht artig, erst singen die Engel, dann klingelt’s …“

Er nickt und geht wieder in den Hausflur, in die Weihnachtsstube, den Salon mit dem großen roten Smyrnateppich und der lustigen Rokokoeinrichtung, dem hübschen Vielerlei, in dem – sie! ihren launenvollen Geschmack aufgegeben … mit der Fensternische, wie geschaffen, um den Christbaum aufzunehmen.

Da steht der verlassene Mann, die

Hände gefaltet, blickt düster vor sich ins Weite, den Mund von Bitterkeit geschürzt – eine stumme Predigt an eine ferne Adresse und nun schlägt er die Hände vors Gesicht und preßt sie auf der Stirn fest zusammen …

Er ist fertig damit, nimmt Zündhölzer und zündet die Baumlichter an, die Lichter um die Deckenlampe mit dem blitzenden Prismenbehang, die Wandlüster, es giebt da zwei kleine Tische, allerlei schon drauf … er verteilt, was er in der Leipzigerstraße in letzter Stunde erstanden. Auf den über Seite gestellten Haupttisch kommt allerlei für das Mädchen.

Er geht leer aus. Wie anders einst …

Er schüttelt den Gedanken ab, setzt sich an ein Harmonium, schlägt den Deckel auf und spielt, ein Weihnachtslied, leise, ganz leise … vor ihm taucht der uralte Weihnachtsgruß auf: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen …

Friede auf Erden! … Streit, Haß, Unfrieden, zerbrochenes Glück … o, wie er sie geliebt hat, angebetet …

In seinem ganzen Gesicht zuckt es. Er springt auf, greift zu einer Tischglocke.

„Meine Jungen,“ sagt er halb schluchzend, als sie zaghaft, mit den weitgeöffneten Kinderaugen, hereintappeln, nimmt sie auf, küßt sie, einen nach dem andern, trägt jedes zu seinem Anteil. Sie sehen ihn verwundert an, nur einen Augenblick, dann ist alles Interesse von den Herrlichkeiten da verschlungen.

Das Mädchen bedankt sich, beklommen, geht es hinaus, um das Abendbrot zu besorgen. Er spielt mit den Kindern, trommelt, pfeift, musiziert … das zerstreut ihn. Was hilft’s! Er wird das Fest verwinden und ein neues Leben anfangen.

„Soll ich hier auf dem Tisch decken?“ fragt Hedwig durch die Thür.

„Machen Sie bloß keine große Deckerei, bringen Sie nur den Teller mit Butterbroten und das Bier.

Sie legt eine Serviette auf und bringt; er ißt stehend, während die Kinder mit allem, was Räder hat, über den rotglühenden Teppich karriolen.

„Ihr müßt auch den Christbaum ansehen … Marie, sieh mal, soviel Lichterchen … und da hängt Schönes drauf! Nachher erzähle ich auch eine Geschichte vom Christbaum, wie die Engelchen ihn angeputzt haben …. “

Nur ein Blick, dann wenden sie sich ungeteilt wieder ihrem Fuhrwerk zu. Was künftig sein wird, ist ihnen gleichgültig.

Er überläßt sie sich selber und beobachtet sie. Sie haben ihre Mutter vergessen, in einem halben Jahre. Als wäre sie nie gewesen. Eine grausame Thatsache … er denkt sich in die Seele dieser Mutter, wenn sie das wüßte, und ihn schaudert. Er wird sich in diese Kinderseelen prägen, so tief wie möglich, ihn sollen sie nicht vergessen!

Er kauert zu ihnen nieder und spielt wieder mit ihnen. Ein Stündchen vergeht, er sieht nach der Uhr … ah, sie zeigen noch keine Müdigkeit. Noch ein halbes Stündchen!

Hedwig räumt ab. „Sollen die Kinder noch aufbleiben, Herr Binder?“

„Noch ein Weilchen.“

Sie geht hinaus – bevor sie die Thür schließt, giebt es ein Geräusch draußen, wie an der Hausthür … dann ist’s verhallt. Der Hausherr hat einen Augenblick acht draufgegeben – legt keinen Wert drauf. Aber gleich drauf kommt Hedwig wieder und bleibt an der Thür stehen.

„Herr,“ sagt sie halblaut.

„Was ist?“ Er fährt mit dem Gesicht auf, wie sieht das Mädchen aus? Rot im Gesicht, verlegen, verstört, wichtig, geheimnisvoll …

„Die gnädige Frau ist da.“ Wie ein Blitz durchschlägt’s ihn. Das ist etwas Ungeheuerliches! Er hat Not, sich zu erheben. „Wo?“ fragt er.

Sie winkt mit dem Kopfe seitlich. „Dort. Im Hausflur.“

Es wirbelt in seinem Kopfe. „Bleiben Sie bei den Kindern, Hedwig, spielen Sie mit ihnen. Ist noch Licht im Flur?“

„Ja.“

Er geht hinaus. Der Flur ist nicht breit, die Hälfte der Länge nimmt die Treppe ein. Unter der Treppe, an der Wand lehnt mit dem Kopf eine mittelgroße Frauengestalt, im pelzverbrämten Abendmantel, die Hände in dem Musse, ein Pelzmützchen auf, das Gesicht weiß verschleiert.

Er steht einen Augenblick wie erstarrt, und sie rührt sich nicht. „Was wünschest du?“ fragt er mit kalter Abwehr. „Ich will zu meinen Kindern,“ sagt sie tonlos. Es liegt etwas Erschütterndes in dieser einfachen Art, wie sie sich einführt. Aber er macht sich hart.

„Wozu das?“ fragt er, sich ein paar Schritte nähernd. „Was man thut, muß man ganz thun, wenn man etwas will, muß man die Konsequenzen auf sich nehmen. Die Kinder fragen nicht mehr nach dir – weshalb sie wieder verwirren …“

Sie schluchzt plötzlich auf, schluchzt, sinkt nieder, kauert sich auf den Boden.

„Meine Kinder,“ stößt sie dazwischen halblaut heraus, „meine kleinen Jungen … sie haben mich vergessen … es ist nicht möglich …“

„Es ist so, und es ist gut so …“

„Nein, es ist nicht gut so!“ sagt sie mit erstickter Stimme und erhebt sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung. „Das sind die Kinder meiner Schmerzen, und ich habe ein Recht auf sie, das unverlierbar ist. ich habe nichts gethan, was jemand berechtigen könnte, mich aus ihrer Erinnerung zu streichen…“

„Du hast sie verlassen; ich denke, das genügt,“ sagt er kalt.

„Meine Kinder – meine Kinder? O Gott … dich habe ich verlassen, der mich peinigt, von dessen Stichen und Schlägen ich die blutigen Male in meiner Seele trage! Du bist’s, der die Kinder mutterlos macht …“

„Das verantworte ich …“

„Das verantwortest du – du …“ Sie tritt ihm nahe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_830.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)