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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Kiaotschau und Schantung.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen S. 45, 49, 50 u. 51.

Das ganze deutsche Volk steht unter dem mächtigen Eindruck der Ereignisse in Ostasien. Zum erstenmal weht die deutsche Flagge auf den Türmen einer ostasiatischen Stadt, zum erstenmal stehen deutsche Truppen auf chinesischem Boden, und der Name Kiaotschau ist in aller Mund.

Bis vor wenigen Monaten erfreute sich diese etwa 60000 Einwohner zählende Hafenstadt an der Südküste der Halbinsel von Schantung eines friedlichen, der großen Welt ziemlich unbekannten Daseins, denn seit der in früheren Jahrhunderten die Halbinsel in nordsüdlicher Richtung durchschneidende Schiffskanal versandete, hat Kiaotschau seine frühere Bedeutung eingebüßt. Sein Reichtum ist verschwunden; die Tempel und Pagoden, welche von der einstigen Größe dieser mit mächtigen Ringmauern umgebenen Stadt zeugen, sind dem Verfall nahe. Kiaotschau wäre wohl noch längere Zeit für Europa bedeutungslos geblieben, wenn nicht im vergangenen Herbst in den westlichen Teilen der Provinz Schantung zwei deutsche Missionäre ermordet worden wären.

Das Reisen in China, und namentlich in der genannten am Gelben Meere gelegenen Provinz, ist für den gewöhnlichen Europäer, den Forschungsreisenden oder Kaufmann, nicht besonders gefährlich. Seit der große Venetianer Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert das chinesische Reich bereist hat, wurde es von Hunderten von Europäern nach allen Richtungen durchzogen und durchforscht, ohne daß sie anderen Unbilden oder Gefahren ausgesetzt gewesen wären als in den benachbarten nichtchristlichen Ländern. Hunderte von Missionären sind im chinesischen Reiche thätig und leben in Ruhe und Sicherheit, bis der fanatische Pöbel, durch Mandarinen aufgestachelt, die Oberhand bekommt. Das war nun leider in den letzten Jahren an verschiedenen Orten Chinas, zuletzt in der Provinz Schantung, der Fall.

Karte von Schantung.

Im westlichen Teile dieser so ungemein fruchtbaren und dichtbevölkerten Provinz liegt einer der heiligsten Orte der ganzen buddhistischen Welt, eine Art buddhistisches Jerusalem, denn in der Stadt Kiu-fao wurde im Jahre 551 vor Christi Geburt der größte Heilige Chinas und Ostasiens, Confucius, geboren. Noch heute leben in dieser Stadt die Nachkommen dieses Weisen, und vier Fünftel der 20000 Einwohner von Kiu-fao stammen mehr oder weniger direkt von ihm ab, oder führen doch wenigstens seinen Namen. Der Confuciustempel von Kiu-fao ist einer der großartigsten und kostbarsten des chinesischen Reiches; seine Wände sind mit prächtigen Inschriftentafeln bedeckt, welche von den Kaisern aller Dynastien seit zweitausend Jahren gespendet worden sind, und die im Tempel sowohl als in den ihn umgebenden Galerien aufgehäuften Schätze, durchweg Opferspenden von frommen Chinesen, bilden das kostbarste und reichhaltigste Museum chinesischer Kunstwerke; in dem den Tempel umgebenden Park erheben sich uralte Bäume, und nahe dem Eingang zu dem Palast des Confucius zeigt man den knorrigen Stamm einer Cypresse, welche von dem großen Manne selbst gepflanzt worden ist. Nicht weit von dem Tempel erhebt sich der hohe Grabhügel des großen Moralisten; auch eine Anzahl chinesischer Kaiser ist in seiner Nähe begraben, und im Südwesten von Kiu-fao, in der unweit davon gelegenen Stadt Tsiu-hien befindet sich überdies in einem uralten Parke seit mehr denn 22 Jahrhunderten die Grabstätte des berühmten Apostels von Confucius, des vielverehrten Mencius. Einige dreißig Kilometer nördlich von Kiu-fao liegt der berühmteste Wallfahrtsort von China, die Stadt Taingan, zu Füßen des heiligen Berges Tai-schan, auf welchem schon vor 41 Jahrhunderten chinesische Kaiser den Göttern geopfert haben und den auch Confucius bestiegen hat. Hunderttausende von Wallfahrern aus allen Teilen des Reiches strömen in jedem Jahre hier zusammen, und der ganze Bergdistrikt des westlichen Schantung wird von den Chinesen als heiliges Land angesehen. Wenn also christliche Missionäre ihre Tätigkeit gerade hierher verlegten, so waren sie sich der ihnen drohenden Gefahren wohlbewußt, und so sehr ihre Kühnheit und ihr Opfermut im Interesse des christlichen Glaubens Bewunderung verdient, ihr bedauernswerter Tod durch die Hand fanatischer Mörder erscheint hier erklärlicher als anderswo.

Glücklicherweise befand sich gerade zu dieser Zeit ein deutsches Kriegsgeschwader in den chinesischen Gewässern, so daß ein kräftiges Einschreiten zur Sühnung der Mordthat unmittelbar darauf erfolgen konnte. Am 15. November v. J. erschienen die Kreuzer „Kaiser“, „Prinzeß Wilhelm“, „Irene“ und „Arkona“ vor Kiaotschau und Viceadmiral von Diederichs ließ 600 Mann und 6 Geschütze landen. Die chinesische Besatzung der dort befindlichen Forts trat beim Anblick der deutschen Truppen den Rückzug an. So wurden dieselben ohne Blutvergießen eingenommen und an Stelle der chinesischen Flagge die deutsche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0049.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2023)