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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wie in einem Taumel herumgingen und jeden Abend sich selbst und einander, fragten: „Ist’s denn möglich, daß g’rad’ wir mit und an dem Kind so viel Freude haben sollen?“ – – Und zwei junge, die sehr ruhig, sehr blühend, sehr vergnügt waren, äußerst verständig, gar nicht „übertrieben“, gar nicht „übermäßig verliebt“ – aber dafür von ganzem Herzen glücklich.


4.

Also „sich kennenlernen“ lautete die Parole. „Gut, lernen wir uns kennen!“, war die fröhliche Antwort der beiden gewesen. Das erste, was Paul in dieser Warte- und Probezeit that, war, seine Wohnung im „Hotel Bellevue“ mit einer im Gasthaus oben auf dem Semmering zu vertauschen. In seinen Augen war Emma seit jenem Waldgespräch seine verlobte Braut – und warum seinen Schatz auch nur einem Achselzucken aussetzen? So war er denn, zum Schmerz des ganzen Dienstpersonals, mit Sack und Pack übergesiedelt. Aber täglich um sechs Uhr morgens war er wieder da, zu Pferd, Wagen oder Rad herübergekommen. Natürlich war um diese frühe Stunde keine Aussicht, etwas von „seinen Leuten“ zu sehen. Da strich er denn ein wenig im Wald herum, sorgfältigst bemüht, sich nicht zu weit aus dem Umkreis des Hauses zu verlieren – denn man kann ja doch nicht wissen!? Punkt sieben Uhr aber ging er dem alten Herrn und dem Fräulein entgegen. Ein Händedruck, ein lustiges „Guten Morgen“ von beiden Seiten – und dann noch, was die zwei Augenpaare dazu sprachen.

Und nun das gemeinsame Frühstück auf der Terrasse – ein sehr gutes Frühstück mit viel Gelächter, eifrigster Konversation und sehr viel Sonnenschein in sechs Augen! Dann kommt die Mutter, und er begrüßt sie – nun, wie man eben die Mutter begrüßt. Natürlich sehen sich die nach und nach erscheinenden Sommerfrischler mit großen, weitaufgerissenen Augen das interessante Schauspiel an – einen Tag wie den andern, obgleich sie sich ja nachgerade daran gewöhnen könnten. Ebenso natürlicher Weise wird gelächelt und geflüstert, und der Papa ist unglücklich. Aber, mein Gott, man muß sich doch kennenlernen! Und nun ist der Waldspaziergang an der Reihe. Paarweise hintereinander natürlich. Die Alten sind meist einsilbig und ganz von dem Bestreben erfüllt, etwas von der Konversation da vorn zu erhaschen. Die Jungen aber sind total von ihrer Beschäftigung in Anspruch genommen: eins liefert nämlich dem andern eine ausführliche Lebensbeschreibung. Sie: unverkürzt, wie jemand, der nichts zu verbergen hat; er aber stockt an mancher Stelle, legt sanft seine Hand auf die ihrige und meint: „Das heben wir uns für später auf!“ Sie nickt ihm darauf mit ihrem guten Lächeln zu; als Großstadtkind hat sie ja ihre stillen Ahnungen, aber felsenfest steht ihr Vertrauen, er könne Unwürdiges niemals gethan haben! Im übrigen bleibt ihr Benehmen zurückhaltend. Der Papa will „das“ nicht, und so thun sie’s nicht – auch in der grünen stillen Waldeinsamkeit nicht. Nur die Hand giebt sie ihm manchmal, und die bekommt sie dann nicht gar zu bald zurück. Und manchmal machen sie kehrt und gehen den Eltern entgegen. Und Emma streicht der Mutter über die Wange und hängt sich an Papas Arm, und jedes von den vieren denkt dann still bei sich, daß das Leben wirklich keine schlechte Sache sei.

Zur Mittagszeit freilich ist große Trennung. Der Papa will nicht, daß er mit an ihrem Tisch sitzt – auch den Tisch nebenan soll er nicht bekommen – und da giebt’s keine Widerrede. Sein Appetit leidet nicht übermäßig unter der Trennung, aber drei-, viermal während der Mahlzeit macht er einen Abstecher auf das verbotene Territorium. „Das muß er doch schnell dem Herrn Doktor erzählen“ – „und weiß denn die gnädige Frau schon, daß –,“ und so weiter. Beim schwarzen Kaffee findet indes die Wiedervereinigung statt, und da erzählt man sich so viel, als ob man sich drei Wochen nicht gesehen hätte. Dann aber kommt ein bitterer Augenblick. Nach Tisch ziehen sich nämlich die Freisingers auf ihre Zimmer zurück, nehmen, selbstverständlich, ihr Kind mit sich und lassen jemand zurück, der sich sehr einsam und überflüssig vorkommt. Dieser jemand schlendert zweck- und heimatlos um das Hotel herum und umkreist lange vor Ablauf einer Stunde (so lange dauert die Siesta der alten Herrschaften) die Hausthür. Fensterpromenaden sind aufs strengste untersagt. Es nimmt ja aber bekanntlich alles ein Ende, und so ist denn schließlich das vierblätterige Kleeblatt wieder glücklich beisammen. Und so, im Gehen und Schlendern, im Horchen, Sprechen, Lachen und Schweigen vergehen die stillen, warmen Sommertage. Zu Nacht ißt man zusammen – der Papa ist ja kein Tyrann – und hat das Mittagsessen geschmeckt, so schmeckt das Abendbrot noch um sehr vieles besser. Und dann kommt der Abschied. Nach Hause geht er (jetzt ist nichts zu versäumen), und wenn der Abend schön warm oder schön kühl ist, oder wenn der Mond sehr hell scheint, oder wenn sich sonst ein Vorwand findet – und er findet sich immer – so geht man ein kleines Stück mit. Paarweise, natürlich! Gewöhnlich geht man weiter, als man ursprünglich wollte, schließlich heißt’s aber ernstlich: umkehren. Er verabschiedet sich von den Eltern so, als ob er sie längere Zeit nicht sehen sollte und als ob ihm das leid thäte. Sie führt er ein paar Schritte weiter, nimmt erst eine, dann die andere Hand, und schließlich küßt er die beiden Hände – langsam, sanft, er will ja den weichen Händchen nicht weh thun, aber zu verschiedenen Malen und ziemlich ausführlich. Und endlich ist er doch gegangen. Bevor er in der Biegung verschwindet, hat er sich noch ein halbes Dutzend Mal umgesehen, und immer sind die drei noch gestanden und haben gegrüßt. Er aber hat wohl nicht alle drei gesehen. – – –

Und so vergehen die Tage, still und warm, einer nach dem andern – und so lernen sie sich kennen.


5.

Pauls Urlaub ist bald zu Ende, und seine Probezeit ist es nun endlich ganz. Eines schönen Tages hat ihn Doktor Freisinger in sein Zimmer gebeten, die Damen waren auch da, und dort hat er ihm eine kleine Rede gehalten, zu der die glänzenden Augen von Mutter und Tochter die stumme, aber angenehme Begleitung bildeten.

„Ich kenn’ Sie jetzt so ziemlich,“ hat der alte Herr unter anderm gesagt, „soweit man eben sagen kann, man kennt einen andern. Vielleicht ist’s eine Dummheit und ein Leichtsinn, daß ich Ihnen, den ich ja eigentlich doch nicht kenn’, das Kind da geb’, das einzige, das ich hab’. Ich bau’ eben auf Ihre ehrlichen Augen, und darauf, daß sie ein Herz zu Ihnen gefaßt hat, und daß Sie an ihr hängen. Sie ist gar nicht besonders glänzend, das muß ich schon selber sagen, und eigentlich ein schüchternes Ding, das sich oft nicht traut, den Mund aufzumachen. Daß Sie doch so bald gemerkt haben, was in ihr steckt, das spricht in meinen Augen mehr für Sie als alle Ihre Millionen. Was die Millionen betrifft – nun, Sie wissen’s am besten, daß wir drei nicht danach gefischt haben. Ich hab’ immer gehofft, daß mein Kind keinen Hungerleider bekommen wird, an so was hab’ ich natürlich nicht gedacht. Nun es da ist, will ich nicht behaupten, es sei mir unangenehm. Brauchen thut meine Kleine so was nicht zum Glücklichsein und Glücklichmachen, aber es wird ihr nicht schlechter stehen als einer andern. Und nun, lieber Bursch’, da hast du sie! Sei gut zu ihr, mach’ ihr’s warm und gemütlich, sie ist’s so gewöhnt, und sie verdient’s! – Und daß du“ – nach einer kleinen Pause, mit nicht gerade glänzend gespielter Heiterkeit – „statt einer – zwei Schwiegermamas bekommst und nicht mehr los wirst, das darf dich nicht stören. Wir wollen dir nicht gar zu arg zur Last fallen, aber ein bissel muß es halt doch sein. Wir haben nur das Eine auf der Welt – und wir haben’s lieb!“

Und welche Rolle hat Paul, der Spötter und Weltmensch Paul, in diesem Familienstück gespielt? Er hat sich auf der Eltern Hände gestürzt, hat sie, trotz allen Sträubens, abwechselnd gestreichelt, gedrückt und geküßt, und dazu recht unzusammenhängende und ungeschickte Worte gestammelt.

Er wolle sie glücklich machen – die Eltern werden schon sehen – und tausend Dank – und sie sollen auch ihn liebgewinnen – er bitte schön darum – und nochmals Dank – tausend Dank!

„Und Schwiegermamas wie euch beide noch ein Dutzend – nie zu viel – das ist ja ein Extrageschenk – ich hab’ mich ja zuerst in die Eltern und dann erst in die Tochter verliebt.“

„Verliebt?“ ruft da jemand, der bisher geschwiegen hat und jetzt nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll – „Verliebt? Du bist ja gar nicht verliebt!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0122.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2020)