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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

mit zwei Schritten an der Thür. Da stöhnt es hinter ihr, und dann hört sie leise und hastig den Erwachenden sprechen: „Christel – der Brief – der Brief in meinem Rock!“

Als sie sich umwendet, starren ihr die noch halb bewußtlosen Augen ihres Mannes entgegen. „Der Brief! Der Brief!“ ruft er.

Sie geht hinüber mit schwankenden Schritten und setzt sich wieder hin. Und mehr und mehr kehrt sein Bewußtsein zurück. „Den Brief – du hast ihn doch nicht gelesen, Christel? Du sollst ihn nie sehen, ich verbrenne ihn gleich – – armes Tier, und ich – und ich! Es geht ja alles vorbei, alles, auch das – Der Brief, wo ist der Brief?“ Er phantasiert noch von dem Hunde, den er gerettet hat – „Zu Hilfe, Karl, nimm du ihn – Christel soll nicht, darf nicht!“

„Der Brief steckt ja in deinem Rock, Anto,“ sagt sie laut mit seltsam veränderter Stimme, „und den Rock habe ich in den Schrank gehängt, hier ist der Schlüssel, Anto.“

Die kraftlose Hand packt den Schlüssel, eine erlösende Ruhe kommt über sein Gesicht. Und Christel geht und holt ihm starken schwarzen Kaffee, wie der Arzt es befohlen hat. Sie muß seinen Kopf stützen, ihm die Tasse halten, und sie zittert so dabei, daß das Porzellan klappernd an die Zähne des Kranken schlägt.

„Arme Christel, solch einen Schreck!“ murmelt er, nun bei vollem Bewußtsein. „Lege dich nieder, ich brauche nichts mehr, ich will ganz still sein.“

Sie schüttelt den Kopf, und als er ruhig mit geschlossenen Augen daliegt, tritt sie in die Fensternische und blickt in den Garten hinab. In dem ungewissen Lichte des halb verschleierten Mondes sehen die kahlen Bäume wie Gespenster aus. Dort drüben, jenseit der Mauer, der schwarze dunkle Strich in der Ferne, das ist der Wald; die verschlungenen Wege des Gartens leuchten herauf wie breite weiße Bänder, und hinter der Orangerie steigt der spitze Kirchturm auf. Ob sie in der Pfarre schon schlafen?

Sie hat eine Sehnsucht nach ihren Leuten wie nie in ihrem bisherigen Leben. An dem Bette der alten verdrießlichen Frau möchte sie niederknieen und schreien: „Mutter, mir ist so weh’ geschehen – lege die Hand auf meinen Kopf, daß er nicht zerspringt vor Jammer! Ich bin heimatlos, ich habe meinen Mann verloren – schlimmer als durch den Tod!“ Mit brennenden Augen starrt sie hinüber, und im Geiste hört sie die alte Frau murmeln: „Aber Christel, meine arme Christel!“

Ob sie hingeht? Ob ihr’s leichter würde, wenn ihr Herz sich ausklagen könnte?

„Pst! Pst!“ tönt’s hinter ihr, und wie sie erschreckt herumfährt, sieht der Doktor zur Thür herein und winkt ihr. Auf den Zehen schleicht sie an Antons Bette vorüber; der liegt still mit geschlossenen Augen.

„Er schläft, Herr Doktor.“

„Lassen Sie ihn, Frau Christel,“ sagt er stockend, „er kann ganz gut eine Weile allein bleiben. Der Diener mag sich hier ins Zimmer setzen für den Fall, daß er irgend etwas bedarf. Sie Frau Christel möcht’ ich bitten, nehmen Sie ein Tuch um und kommen Sie mit mir. Ihre alte Mutter ist nicht ganz wohl, – erschrecken Sie nur nicht – ich – ich –“ Er zuckt die Schultern, er wagt nicht weiter zu sprechen.

Und die Frau vor ihm sieht ihn an mit todblassem Gesichte, mit Augen, groß und leer. Dann nickt sie, sie hat schon verstanden. „Mutter stirbt?“ fragt sie tonlos.

„Sie ist recht krank, Frau Christel.“

„Kommen Sie, Herr Doktor!“

„Mein Wagen wartet, Frau Christel, nehmen Sie etwas Warmes um, es ist windig draußen. Einer Ihrer Neffen hat mich halbwegs Altwitz abgefangen. – Zum Donnerwetter!“ schnaubt er den Diener an, „machen Sie, daß Sie hineinkommen zu Ihrem Herrn, und wenn er nach Frau Mohrmann fragt, so sagen Sie, die hätt’ ich zu Bett geschickt. Ihrem Herrn thut weiter nichts not als Ruhe. Nachher komm’ ich zurück.“

Das kleine Pferdchen des Doktors trabt, so rasch es seine müden Beine und sein hungriger Magen erlauben, durch das Dorf und hält nach einigen Minuten vor der Pfarre. Christel stolpert mehr als sie geht über die Schwelle der Hausthür in den Flur hinein. Das Häufchen der Kinder sitzt bei der Lampe zitternd und schluchzend noch auf; es hat niemand daran gedacht, sie zu Bett zu bringen. Der kleine Anton wankt Christel entgegen. „Großmutter ist gesterbt vorhin,“ berichtet er wichtig, „sie sind alle oben.“ Christel schiebt das Kind zur Seite und steigt die Treppe empor.

Im Wohnstübchen der Verstorbenen sitzt der Pastor auf dem Sofa und hält seine schluchzende Frau an sich gepreßt; Louischen steht am Fenster und weint in ihr Taschentuch. Christel ist plötzlich eingetreten, der Arzt hinter ihr; sie sieht aus, als kämpfe sie mit einer Ohnmacht.

„Mutter?“ fragt sie.

Der Pastor streckt ihr die Hand hin. „Sie ist heimgegangen, Schwester!“ sagt er, ohne seine Frau loszulassen. Der Arzt ist indes in das Sterbezimmer getreten, nach ein paar Augenblicken kehrt er zurück. „Gehen Sie hinein, Frau Christel,“ bittet er mitleidig. Und Christel geht hinein in das kleine weiß getünchte Kämmerchen, in dem das schmale Bett im geschütztesten Winkel steht. Man hat die Fenster schon geöffnet, eine eisige Luft herrscht in dem kleinen Raum; auf der Kommode brennt ein Stearinlicht und flackert im Winde.

In den Kissen liegt friedlich die alte Frau, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, und schläft. – Sie ist keine zärtliche Mutter gewesen, sie hat gar oft gehadert und gescholten, hat geklagt über die Last, die ihr Gott auferlegte als Witwe mit drei Töchtern, aber da innen, im Herzen, da saß sie ja doch, die treuste Liebe der Welt, die echte rechte Mutterliebe.

„Mutter,“ sagt Christel vorwurfsvoll und kauert sich neben dem Bette nieder, „Mutter, jetzt durftest du doch nicht gehen, jetzt hätte ich dich nötiger gehabt als mein ganzes bisheriges Leben hindurch!“ Und ihr Kopf wühlt sich in die Kissen dicht neben der Schulter der Toten, und ein leidenschaftliches, bitterliches Schluchzen erschüttert sie.

Louischen hört es nebenan und kommt herein in das Sterbezimmer. „Aber, Christel,“ sagt sie in ihrer herben Art, „so faß dich doch! Ihr thut am allerschlimmsten, ihr beiden, und wißt doch, wohin ihr gehört, und habt noch einen, bei dem ihr euch ausweinen könnt. – Was soll ich denn sagen?“

Christel antwortet nicht; sie rafft sich nach einer Weile auf und will ohne Abschied fort, aber der Prediger läßt sie nicht. Er faßt ihre Hand und leitet sie neben seine Frau auf das Sofa, und dann holt er einen Stuhl für Louischen. Der Arzt ist gegangen.

„Ihre Zeit war erfüllet,“ beginnt der Geistliche; er ist vor den Frauen stehen geblieben und hat die Hände ineinander gelegt.

„Ja, ja,“ unterbricht ihn die unverheiratete Schwägerin, „wir wissen ja alles, Robert, was du sagen willst, aber darum thut’s doch weh – laß uns ausweinen.“

„Ich wollte nur sagen, liebe Louise,“ fährt er fort und kämpft seinen Unwillen über die Unterbrechung tapfer nieder, „daß man in Augenblicken, da der Tod eine Lücke reißt, fester und näher zusammenrücken, noch inniger und treuer miteinander fühlen und leben soll. Ihr drei Schwestern werdet euch, wenn möglich, noch lieber haben als bisher, denke ich, und ihr beiden, denen Gott einen Lebensgefährten gab, du, Lotte, und du, meine liebe Christel, ihr werdet unserer Louise jetzt die Mutter ersetzen wollen soviel als möglich, werdet ihr den schweren Weg, den sie allein gehen muß, nach Kräften zu erlei – –“

Christel sitzt mit einem Ruck plötzlich hoch aufgerichtet da, der Pastor ist jäh verstummt bei der verächtlichen Handbewegung, die sie macht. „Ich hätte dich morgen bitten lassen, zu mir zu kommen, Robert,“ beginnt sie mühsam, „aber ich finde, es ist besser, ich sage es euch allen noch heute – ich – es ist schon lange mein stiller Kummer gewesen, aber nun muß es ausgesprochen werden – ich – das heißt Anto und ich, wir wollen uns scheiden lassen – wir – er – – “ Sie bricht ab, die Sprache versagt ihr.

Die Worte sind wie ein Blitz eingeschlagen in die kleine Versammlung; unwillkürlich sieht Louischen sich nach der Thür um, hinter der die Tote schlummert, als fürchte sie, ihr Friede werde gestört. Die Pastorin schluchzt nach einem Weilchen noch heftiger als zuvor, der Pastor aber sieht mit gerunzelter Stirn auf Christel, die plötzlich wieder in sich zusammengesunken ist und mit den Fingern an den Fransen ihres Tuches zerrt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0135.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2019)