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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

dem Mittelweg führt. Dann wandern sie stumm nebeneinander. Die Dämmerung ist sehr rasch gekommen, sie verwischt die Konturen der Bäume, sie verhüllt auch den vernachlässigten Anzug Mohrmanns, sein gealtertes Gesicht.

Und mitten in dieses stumme Wandern hinein spricht Edith: „Ich freue mich, Herr Mohrmann, daß ich Ihnen doch noch Lebewohl sagen kann, ich würde es sehr bedauert haben – –“ sie stottert und schweigt.

„Sehr liebenswürdig!“ antwortet er. „Sie freuen sich natürlich sehr auf diese Reise.“

„Ich?“ ruft sie entrüstet, und diese Entrüstung ist wirklich eine ehrliche. „Ich mich freuen? Aber ich bin ja totunglücklich, daß ich fort muß von Wartau!“ Sie bricht ab und sucht nach dem Tuch in der Tasche ihres Jacketts.

Er bleibt stumm; er ist nicht imstande, das zu würdigen, was sie sagt; er ist so mürbe, so völlig zerschlagen von den Ereignissen der letzten Tage, in denen ihn Mitleid und Reue, die furchtbarsten Selbstvorwürfe, die jammervolle Sehnsucht nach der Frau, die ihn verließ, umhergerissen haben in Himmel und Hölle; er ist ein kranker elender Mann geworden in dieser kurzen Zeit. Dreimal hat er seinen Koffer ein- und wieder ausgepackt, um zu Christel zu eilen, sie anzuflehen, wiederzukommen, und immer, wenn es soweit war, ist er mutlos in den nächsten Stuhl zusammengebrochen; er kann nicht vergessen, was sie ihm geschrieben, die Worte: „Aber ich komme nicht, denn dein Mitleid kann mir deine verlorene Liebe nicht ersetzen.“

Nein, sie wird nicht kommen, sie konnte nicht wiederkehren; die allezeit fügsame geduldige Frau stand drohend, unbeugsam da vor seinen Augen – spare dir die Mühe, ich bin tödlich verletzt! Und er ist zurückgeblieben in völliger Verzweiflung; die rasende Leidenschaft für Edith von Ebradt scheint gebrochen. Er wollte sie nicht sehen, er dankte Gott, als er erfuhr, daß Fräulein Tonette sie auf Reisen schickte. Wie erlöst würde er sein, wenn sie das Haus verlassen habe – meinte er.

Und weiter wandern sie stumm nebeneinander. Da dringt ein Schluchzen an sein Ohr, ein leises bitterliches Schluchzen. Edith ist stehen geblieben, hat das Gesicht in das Taschentuch verborgen und weint. Jetzt packt ihn das Gefühl der Verantwortung und der Reue auch nach dieser Seite, er ist im nächsten Augenblick bemüht, die Hände von ihren weinenden Augen fortzuziehen; hastig, leidenschaftlich stößt er die Worte hervor: „Edith – um Gotteswillen – weshalb – ich bitte Sie, Edith!“

Und sie lehnt an seiner Schulter und die ganze übermächtige Spannung der letzten Tage löst sich auf in ein krampfhaftes Weinen, gegen welches schlechterdings kein beruhigendes Wort etwas vermag.

„Edith, weinen Sie, weil Sie fort sollen?“

Sie schluchzt noch stärker.

„Und weshalb denn, Kind? Machen Sie es mir nicht noch schwerer! Sie sind so jung, so schön – Sie werden in vier Wochen Wartau und seinen alten bärbeißigen Herrn total vergessen haben; glauben Sie es doch – es ist zu Ihrem Besten!“

„Nie! O nie!“ ruft sie, und aus der Dämmerung leuchten ihm ihre heißen verweinten Augen entgegen, die sich mit dem Ausdruck flehender, hingebender Liebe auf ihn richten.

„Ich habe nichts lieber auf der Welt als Wartau; nichts weiter will ich, als hier bleiben, nichts weiter!“

„Edith!“ Ihm ist ganz schwindlig, der alte unwiderstehliche Zauber packt ihn, atemlos flüsternd fragt er: „Bei mir, Edith – auch bei mir?“

Und ihr Weinen verstummt. „Auch bei dir!“ klingt es leise.

„Kind, du hättest mich wirklich lieb, du – mich?“

Sie nickt stumm.

„Schon lange? Schon immer? Wirklich, Edith?“ Er streicht ihr über das Haar mit zitternder Hand; sprechen kann er nicht.

„Laß mich bei dir bleiben!“ fordert sie mit süßer leiser Stimme.

„Nein!“ sagt er plötzlich laut, „nein, du mußt gehen, jetzt gehen, aber“ – und er küßt ihre beiden Hände, immer abwechselnd, während er spricht, „du kommst wieder – versprich mir, du kommst wieder, dann, wenn alles licht und hell ist, wenn ich ein freier Mann bin. – Geh’, laß mich die schwere Zeit jetzt allein durchkämpfen, es soll nicht mehr mutlos geschehen. Ich will alles geduldig tragen, wenn ich glauben darf, daß meine Liebe zu dir keine Verirrung war, sondern geheiligt ist durch deine Gegenliebe.“

Sie weiß kein Wort zu erwidern, aber sie fühlt, sie ist am Ziel ihrer Wünsche. Und dennoch packt sie etwas wie zitternde Furcht vor der großen ernsten Leidenschaft, die sie wachgerufen hat aus Eigennutz und Berechnung. Er läßt nicht mit sich spielen, das fühlt sie unter Herzklopfen.

Sie weiß nichts weiter, als wieder zu weinen, an seiner Schulter zu weinen, und sie wartet, daß er mit tändelnden, beschwichtigenden Worten sie beruhigen soll, wie eine Mutter ihr Kind, aber sie wartet vergebens.

„Komm’,“ sagt er dumpf, „geh hinauf, und wenn du fort bist, dann denke aus der Ferne an einen, der auf bessere Zeit, der auf dich hofft.“ Und ohne ein weiteres Wort schreiten sie nebeneinander, nur am Ausgang des Wäldchens preßt er ihre Hände noch einmal an die Lippen.

„Auf Wiedersehen!“ klingt es fast heiser, dann wendet er sich und erreicht mit einem Umweg außerhalb des Gehöftes das Schloß, während Edith durch den Garten eilt, verwirrt, befremdet, doch so beruhigt, so innerlich befriedigt. Er ist der Ihre! Widerstrebend, bereuend, unter Gewissensqualen – aber doch der Ihre! Ihre Macht siegte.

Und er kommt nach einem Weilchen über den Hof mit festeren Schritten als vorher, wenn auch noch mit finstern Brauen. Die Zweifel sind nun zu Ende, der Würfel ist gefallen. Edith liebt ihn, und nun vorwärts auf dem einmal betretenen Wege! Mit dieser Entscheidung ist eine Erschlaffung über ihn gekommen, eine unbezwingliche Müdigkeit. Nach Monaten zum erstenmal schläft er, schläft wie ein Toter: seine abgehetzten gequälten Nerven verlangen ihr Recht.

Als er erwacht, ist’s heller Tag, und er fährt mit dem Rufe „Christel!“ in die Höhe. Erst langsam besinnt er sich, daß Christel ihn verlassen hat. Der Diener aber bringt ein Briefchen und bestellt: Fräulein von Ebradt lasse noch einmal grüßen, vor einer halben Stunde sei sie abgereist.

Mühsam, wie ein Achtzigjähriger erhebt er sich. „Vorwärts,“ sagt er, „es muß sein!“




Vor dem „Hotel Schweizerhof“ in Luzern spielt die Hauskapelle; es ist kurz vor der Zeit des Diners, so gegen sechs Uhr. Die Gruppen der Reisenden sitzen auf den zierlichen Bambusstühlen umher, teils das herrliche Bild bewundernd, das sich vor ihnen ausbreitet, teils plaudernd und lachend. Auf dem Fahrdamm rollen unaufhörlich die vollbesetzten Hotelwagen oder Landauer mit Ausflüglern; unter den dichten Platanen schiebt sich eine Masse Menschen aller Nationalitäten; ein großer Dampfer wiegt sich, zur Abfahrt bereit, auf der intensiv grünen Flut und jenseit dieses schönsten Schweizersees ragt stolz der Pilatus empor, unverschleiert, in klassischer Schöne, und daran reihen sich die schneebedeckten Alpengipfel.

Graf Altwitz mit Frau und Pflegetochter Edith befinden sich ebenfalls unter den Fremden, ihres Diners harrend. Das alte Paar kann sich nicht satt sehen an dem köstlichen Bilde; sie machen einander immer wieder auf eine neue Schönheit aufmerksam. Edith lehnt still in einem Schaukelstuhl mit sehr gelangweilter Miene und betrachtet den riesengroßen Hotelomnibus, dem eben wieder ein wohlgezähltes Dutzend Menschen entsteigt. Plötzlich richtet sie sich straff empor, über ihr schönes Gesicht hat sich eine Purpurröte ergossen. Drei Personen fesseln ihre Aufmerksamkeit so sehr, daß sie die Frage der Gräfin „Ja, ist dies Luzern nicht wunderschön, Edith?“ völlig überhört.

Ein sehr blasser, offenbar recht kranker junger Mann wird von einem andern geführt, eine blutjunge Frau geht ihm zur Seite, alle drei vornehme Menschen aus den ersten Kreisen der Gesellschaft in tadelloser Reisetoilette. Die Herren sind unverkennbar Brüder. Sie gehen, ohne die neugierigen Blicke zu beachten, vorüber in das Hotel. Edith fängt ein paar Worte der jungen Frau auf: „Sorge doch, bitte, für ein kühles Zimmer, Edi.“ – Dann sind sie verschwunden in dem Portal.

Edith holt tief Atem.

„Kennen Sie die drei?“ fragt Graf Altwitz, der noch immer ein Monocle trägt und dadurch viel jünger und unternehmungslustiger aussieht, als er es in der That ist, „nette Erscheinung, die kleine Frau – was?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0211.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2024)