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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

schwang ihn. „O, den schleudern dürfen! auf freiem Felde schleudern, jemand in die Beine, Herrn Heideschmied zum Beispiel, das müßt’ eine Wonne sein!“

„Du hast keinen Grund, dich über ihn zu beklagen,“ sagte Bornholm. „Das ist ein sehr bequemer Mann, und mit einem festen Schlafe gesegnet, wenn du so leicht entwischen kannst.“

„Festen Schlaf braucht’s nicht. Kein Wachthund hätt’ mich gehört. – Also morgen wieder fort, Levin,“ setzte er mit einem Seufzer hinzu, verbesserte sich aber sogleich, da Bornholm diesen Ausdruck des Bedauerns sehr ungnädig aufnahm. „Mir ist’s am Ende recht. Wenn ich weiß, du bist da, und ich darf dich doch nicht sehen, das ist mir das Grauslichste.“

Bornholm stellte einen kleinen Koffer auf den Tisch und fing an zu packen, und Joseph hätte ihm fürs Leben gern seine Dienste angeboten, wagte es aber nicht, sonst hieß es gleich: „Mach’ dich nicht überflüssig,“ in dem Tone, der einem ins Herz schnitt, weil er so deutlich sagte: Was hast du hier zu suchen? Geh deiner Wege! – Und nur das nicht! nur nicht von ihm fortgejagt werden, den er liebte und verehrte, trotz all des Schlechten, das ihm nachgesagt wurde … Ja vielleicht, weil ihm so viel Schlechtes nachgesagt wurde, und weil er sich nie, auch nicht mit einem Worte zu rechtfertigen suchte und nie gegen einen Menschen, und wenn es sein ärgster Feind war, eine Anklage erhob. Er haßte und verachtete die Menschen im großen, die ganze Species. Er schlug auch, so viel hatte Joseph, wie ungern Bornholm auch von sich sprach, im Lauf der Zeit doch aus ihm herausgebracht, einzelne tot. In Herbert River, in Alexandraland hatte er Blut vergossen zu eigener Verteidigung und zu der anderer. Beschimpft hatte er keinen, nicht einmal einen Aschanti, nicht einmal ärgere als Aschanti – die Dorfbuben, die …

Vor Joseph tauchte die Erinnerung an den peinvollsten Augenblick seines jungen Daseins auf, an seine Verzweiflung, seine Niederlage, seine Befreiung … Ein Schmerz, eine Wut – eine Dankbarkeit, so heiß wie sie ihn damals durchglüht hatten, damals vor zwei Jahren, schwellten sein Herz und er rief plötzlich aus:

„Weißt du noch, Levin, meine kleine Kitty, der liebe Hund – weißt du, wie die Buben ihr die Pfoten abgeschnitten und sie gezwungen haben, auf den Stumpfen zu laufen?“ Eine unbeschreibliche Qual verzerrte sein Gesicht, er schluckte, er benetzte mit der Zunge seine trocken gewordenen Lippen.

„Wie ein altes Weib,“ brummte Levin. „Immer die alten Geschichten aufwärmen! Vergiß das!“

„Ich will’s nie vergessen!“ rief Joseph. „Weil ich nicht v ergessen will, daß du mich gerettet hast … Ja, ja, ja! … Ich hab’ sie alle erwürgen wollen … Aber es waren ihrer zu viele. Ich war schon niedergerissen … Hätt’ ich mich nur nicht niederreißen lassen!“ knirschte er – „wie du gekommen bist und mich vom Tod gerettet hast.“

„Vor Prügeln hab’ ich dich gerettet, vor weiter nichts,“ sprach Levin.

„Es ist nicht so; wenn’s aber wäre, müßte ich dir nicht auch ewig dankbar sein?“

„Laß mich aus mit deiner Dankbarkeit!“ fiel Bornholm ihm gebieterisch ins Wort und wollte schon hinzusetzen: schöne Gefühle hab’ ich nicht, und mag sie nicht an anderen. Aber er besann sich und sie sprachen von seinen Ländereien, seinen Herden und von der Jagd und von Abenteuern beim Wandern durch die klingenden Wälder, beim Uebersetzen reißender Flüsse und dem Uebernachten unter freiem Himmel, unter dem Zelte oder in Felsenhöhlen in Gesellschaft von Menschenfressern.

„Ich praßle!“ schrie Joseph, „ich verbrenn’ hier vor Sehnsucht, so einen Menschenfresser einmal zu sehen. Wie einem nur ist, wenn die Kerle brüllen: Talgoro, talgoro! – das heißt doch Menschenfleisch? Und ihre Kampftänze! – ich würde gleich mitthun, sag’ ich dir – o Levin – ich sag’ dir – ich praßle!“




„Das kannst du auch zu Hause,“ sagte Levin. „Geh nach Hause prasseln. Es ist bald Zwei und ich möcht’ vor der Abfahrt noch ein paar Stunden schlafen. Auf Wiedersehen, Joseph!“

„Wann?“

„In zwei Jahren vielleicht.“

„In zwei Jahren? – Das erleb’ ich nicht!“

„Hoho!“ Levin lachte.

„Mit dem Hofmeister nicht! … Ich hass’ ihn. Der Schullehrer hetzt die Dorfkinder gegen uns, ja, ’s ist wahr, aber er quält uns nicht mit dem verfluchten Lernen … Der Heideschmied, der möcht’ die Sachen ganz anders anpacken. Nun – der soll seine blauen Wunder sehen. Eh’ du wiederkommst, sag’ ich dir, ist er aus dem Haus geflogen.“

Joseph sprach das alles hastig, wie einer, der seine Rührung zu verreden sucht, während sie aus dem Zimmer gingen und über den Hof und den Vorhof, wo Jedén und Dva sie freundlich empfingen. Vor der Brücke blieb Levin stehen. Sie schüttelten einander die Hände:

„Leb wohl, Joseph, leb wohl, Junge!“

„Leb wohl, Levin. Laß dich nicht fressen drüben. Komm’ wieder!“ Männlich kämpfte er seinen Schmerz und seine Ergriffenheit nieder, nahm sich zusammen und setzte ruhig hinzu: „Und sag’ dem Gärtner, daß er mich einlassen soll und den Leopold auch, so oft wir entwischen können. Er sagt sonst gleich: Ich hab’ keinen Befehl. Vergiß also nicht. Adieu!“

„Ich vergesse nicht. Adieu!“

Es war ein wenig lichter, der schwere Dunst, der auf den Feldern und Wiesen lag, durchsichtiger geworden, am Himmel blinkten matt einzelne Sterne. Levin sah dem Enteilenden nach. Ein herzlicher Wunsch erfaßte ihn, ihm zu folgen, ihn einzuholen, ihm noch einmal tüchtig die Hand zu schütteln und zu sagen: „Laß auch du dich nicht auffressen vom Hergebrachten, vom Alltäglichen und Kleinlichen und von der Philistermoral.“ Aber er widerstand der Versuchung. Möge jeder seine Wege gehen, auch der dort! Wohin sie führten, kümmert Levin Bornholm nicht. Er will keine Teilnahme empfinden und am wenigsten – verraten. Liebe, Freundschaft, Anhänglichkeit – fort damit, fort mit allem, was uns ein Gängelband anlegt, uns beeinflußt, uns zwingt! Ein Vierteljahrhundert hatte er gelebt, und dieses Leben bedeutete im Grunde einen Schiffbruch. Aber Köstliches hatte er gerettet: den Glauben an sich selbst, die absolute Freiheit, die Kraft, den Verteidigungskrieg zu führen, aus dem das Dasein des Mannes besteht, der sich keinem Joche des Herkommens beugt, dem Heiligkeit, Edelmut, Mitleid, Nächstenliebe – Worte sind. Levin kehrte in seine Stube zurück, nahm die Lampe vom Tische und durchwanderte sein trauriges Daheim. Er ging durch düstre, mit Ziegeln gepflasterte Gänge, in denen die Luft selbst eingeschlafen schien, in denen der Schritt nicht hallte, über steinerne Treppen und Treppchen, durch öde Gemächer mit gewölbten Decken, schmalen Fenstern, bestaubter, verwitterter Einrichtung. Er haßte den mittelalterlichen, romantischen Anstrich des Hauses und die abscheulichen Erinnerungen an seine Kindheit, die ihm aus allen Ecken und Enden entgegenstoben. Die Vergangenheit stand da wie ein Feind, aber vor Feinden flieht man nicht, man ringt mit ihnen. Er schritt vorwärts und betrat endlich die Stätte, an der seine Mutter den letzten Atemzug gethan hatte.

Du qualerfülltes Totenzimmer, deine Wände schreien!

Alles noch so wie am Morgen, an dem die Leiche fortgetragen wurde. Der Vater hatte den Raum nie betreten, der Sohn ihn nur verstohlen betreten dürfen. Kein Blick ins Freie aus der zellenartigen Stube. Die zwei durch einen weit vorspringenden Pfeiler getrennten Fenster hatten die Aussicht auf einen kleinen Burghof. Kahle Mauern und einer der steinernen Türme umschlossen ihn, und in die Fensternische mußte man treten und sich tief bücken, um ein Stückchen Himmel zu sehen. Und da stand noch der Schemel, auf dem die Gefangene gesessen und zum Himmel hinaufgeblickt hatte, das bißchen Sonnenlicht und Sternenschein suchend, das in ihre Klause eindringen konnte.

Levin stellte die Lampe auf den Tisch. Grelles Licht fiel auf die kärgliche Einrichtung, ein Schrank, ein paar Holzstühle, ein eisernes Gestell mit einem Waschbecken. An der Wand neben dem Bette hing eine Zeichnung, das Bild Levins als Kind. Darüber ein dürrer Weidekätzchenzweig. Es war auch ein Kruzifix dagewesen; das aber hatte die alte Alwilde, die Dienerin und Gefangenwärterin, der Toten in die gefalteten Hände gelegt.

An den Schrank gelehnt, die Hände in den Taschen, den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0264.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2020)