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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

vollem Halse und mit dem Ausdruck der Bestürzung: „Komm’! schau! die arme Kleine ist tot!“

Frau Budik und der Erzieher sprangen auf, wendeten sich: „Jesus, Maria!“ stöhnte die Wärterin.

Die Knaben hatten den Sandhaufen neben dem Gartenhause zu einem regelrechten Grabhügel zusammengeschaufelt, eine längliche Vertiefung hineingegraben und mit Latten ausgelegt, die den Rand eines Sarges vorstellen sollten. In dem improvisierten Sarge lag auf Gras und Wiesenblumen gebettet mit geschlossenen Augen und über der Brust gefalteten Händen die Kleine und sah in der grünlichen Dämmerung unter den Bäumen wahrhaftig wie eine Tote aus. Zu beiden Seilen knieten Leopold und Franz, hielten ihre Taschentücher an ihre Gesichter gepreßt und heulten aus Leibeskräften.

„Nein,“ rief Apollonia händeringend, „diese Dummheit! hat man je etwas so Dummes gesehn wie diese Buben! Was ist das für ein Spiel? Wer spielt denn mit dem Tod?“

Leopold lachte über den Ausbruch, Franz rang mit wirklichen Thränen und Joseph sagte beschwichtigend:

„Aber Poli, ärger’ dich doch nicht! Sie hat’s ja selbst gewollt. Was soll man denn thun, wenn sie’s will?“

Heideschmied stand regungslos und blickte unverwandt zu dem Kinde nieder. Plötzlich schüttelte es ihn wie Fieberfrost und mit einem trockenen Schluchzen brachte er die Worte hervor: „Ganz wie meine kleine Mili, so ist sie im Sarge gelegen!“

Die Tote jedoch war unzufrieden mit der Unterbrechung des Weinens und Klagens um sie und flüsterte ihren Brüdern zu: „Besser jammern!“




Auf dem Wege zum Turnplatz machte Apollonia Herrn Heideschmied die Bemerkung: Wenn er ein Kind gehabt habe, müsse er auch eine Frau gehabt haben, und er erwiderte mit einem tiefdankbaren: „Gottlob, die Frau habe ich noch!“

Apollonia war erstaunt: „Sie haben eine Frau und sprechen nie von ihr? scheinen sie sehr lieb zu haben und trennen sich von ihr? Das ist merkwürdig.“

Er erwiderte nur: „Ja, die Verhältnisse“, und sie dachte, es seien wohl seine Geldverhältnisse, die er meine; diese mußten, nach allen Anzeichen zu schließen, klägliche sein. Frau Budik unterdrückte die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten; es war nicht Zeit, sie zu stellen, man hatte den Turnplatz fast schon erreicht. Er lag am Ende einer breiten Allee von Lindenbäumen. Die Aeste der äußern Reihe spreizten sich, kraftstrotzend, blühend und duftend, über das eiserne Gitter und die Säulen der Mauer, die hier den Garten von der Dorfstraße trennte.

Joseph war vorausgelaufen und hatte sich mit dem Untersuchen der Turngeräte zu thun gemacht. „Herr Heideschmied!“ rief er dem aus Leibeskräften entgegen: „Kommen Sie! sehen Sie, was die Dorfkinder wieder gethan haben, die Spitzbuben, die Sie immer gegen uns in Schutz nehmen!“

Triumphierend wies er ihm nach, daß die Knoten der Schaukelstricke und der Schwungringe locker gemacht waren. „Man sieht’s nicht gleich, aber probieren Sie’s nur und schaukeln Sie sich ein bißchen stark. Im besten Flug schmettern Sie herunter, daß Ihnen die Funken vor den Augen tanzen. Mir ist’s schon einmal so gegangen und dem Leopold auch.“

Heideschmied war betroffen und erstaunte, daß die Tanten, die sich inzwischen eingefunden hatten, es so gar nicht waren. Nicht im mindesten betroffen und überrascht, nur sehr betrübt. „Eine traurige Thatsache und ein großes Uebel,“ sagten sie, „die Feindseligkeit, die zwischen Dorf und Schloß ausgebrochen ist.“

„Und wir haben den Leuten nie etwas Böses gethan!“ rief Joseph.

„Böses, du lieber Gott!“ fiel Frau Budik ein, „zu viel Gutes, das ist der Fehler. Diese Leute“ …. die immer noch schöne und ansehnliche Frau hatte eine ungeheuer verächtliche Manier, die zwei Worte auszusprechen. Es war, als ob sie jeden einzelnen dabei ohrfeigte. „Diese Leute, die selbst nichts kennen als Haß und Neid, begreifen nicht, daß ein andrer etwas Gutes aus freiem Willen thut. Man thut’s aus Angst, meinen sie, oder weil man ein schlechtes Gewissen hat oder weil man sich bei ihnen einschmeicheln möchte.“

„Einschmeicheln?“ schnaubte Joseph, und Leopold fand seine Entrüstung und die Frau Budiks sehr komisch und begriff nicht, wie man sich über Bübereien armer Teufel ärgern könne. Franz Pflanzte sich breit mit ausgespreizten Beinen vor Apollonia hin, stemmte die Arme in die Seiten und sprach zornig:

„Weißt du, Poli, klatsch nicht! Es sind nicht lauter ‚diese Leut‘, es sind auch brave.“

„Und du, ärger’ dich nicht!“ erwiderte sie und setzte, zu den Tanten gewendet, leise hinzu: „Der Bub ist merkwürdig. Aergert sich gleich, und wird gleich puterrot und ganz atemlos. Wenn ihm nur nicht am End ’was ist.“

Charlotte klopfte ihm liebreich auf die Wange und Renate zog ihn an sich und küßte ihn.

Die Produktion begann.

Heideschmied leitete sie und machte die verwegensten Uebungen seiner Schüler mit. Aus Respekt vor den Damen turnte er nicht wie gewöhnlich in Hemdärmeln, sondern purzelte, wippte, wirbelte von den langen grauen Schößen seines Rockes wie von sturmgepeitschten Gewitterwolken umflogen. Man wußte oft nicht, wo Herr Heideschmied anfing und wo er aufhörte, und wo die vordere und wo die rückwärtige Fronte der hageren Gestalt mit ihrem derben Knochengerüste sich eigentlich befand.

Charlotte flüsterte ihrer Schwester zu: „Eine Hoffmannische Figur. Beinahe unheimlich.“

„O sehr!“ erwiderte Renate. Ihr überfeines Gefühl war durch das Groteske des Anblicks etwas peinlich berührt, sie geriet auch ein wenig in Verlegenheit – für den guten Heideschmied. Und ihr war bang um die Kleine, die das mit ansah und gewiß davon träumen und eine schlechte Nacht haben werde.

Renate teilte Frau Budik ihre Besorgnisse mit und die Wärterin gab sich Mühe, Elikas Aufmerksamkeit von Herrn Heideschmieds Evolutionen abzulenken. Es war unmöglich. Sie, die ihm bisher die größte Abneigung gezeigt hatte, wegsah, wenn er sich ihr näherte, sein bescheiden eifriges Werben um ein gutes Wort beharrlich mit „Nein“ beantwortet hatte – verwendete jetzt kein Auge von ihm, war ganz versunken in ernste und nachdenkliche Betrachtung und sagte von Zeit zu Zeit leise: „Bravo, Herr Heideschmied!“

Plötzlich, mit raschem Entschlusse ließ sie sich vom Schoße Frau Budiks herabgleiten und rief: „Auch turnen! Ich will auch turnen!“

Heideschmied kauerte nieder und streckte ihr seine Hände entgegen. „Komm’! komm’!“ sagte er, von Schauern des Entzückens durchrieselt. Seine kleine Mili! Ihm war, als sähe er sie wieder, als sei das Kindlein auferstanden und liefe auf ihn zu.

Mit unendlicher Vorsicht faßte er sie und hob sie in die Höhe. Er fühlte das winzige Körperchen beben zwischen seinen Fingern und das Herz förmlich hüpfen. Nicht vor Angst, vor Freude.

„Höher! noch höher!“ rief sie, „laß mich fliegen!“ Sie streckte die Arme empor und jauchzte: „Ich fange Wolken! Ich fange Vögel! Ich spring’ in den Himmel!“

Von dem Augenblicke an war ihre Freundschaft mit Heideschmied geschlossen.

Auf der Straße hatte ein ungebetenes Publikum sich versammelt. Dorfkinder, Knaben und Mädchen, kleine, die noch kleinere mühsam schleppten, übermütig hutschten, größere, die sich um die Plätze am Gitter balgten, von denen aus man am bequemsten den Turnübungen der jungen Herren und ihres Hofmeisters zusehen konnte. Bei jedem neuen Kunststück ertönten neue Lachsalven, die Jugend auf der Straße höhnte und grimassierte und machte besonders Herrn Heideschmied zum Ziel ihres Spottes.

Als er Elika in seine Arme genommen und emporgehoben hatte, war einer der Humoristen da draußen über eine kleine Katze hergefallen, die ängstlich längs der Mauer vorüberschlich, und hatte sie, die Bewegungen Heideschmieds nachahmend, mehrmals hoch hinauf geschnellt in die Luft und wieder aufgefangen und gerufen:

„So muß man’s machen! So machen Sie’s, Herr Hofmeister!“

Josephs Augen funkelten, er knirschte Heideschmied voll Verachtung an: „Halten Sie das aus?“ und faßte den überhängenden Ast eines der Lindenbäume, ihn zu erklettern und sich von ihm aus auf die Straße, mitten in die feindliche Kinderschar

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0267.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2020)