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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

streng im schlichten tibetanischen Stil gehalten, nur durch sechs schlanke Säulen an der Hauptfront und seine chinesische Ueberdachung ein prunkvolleres Gepräge erhielt. Mehrere an ihm angebrachte melodische Metallglocken verursachten eine eigentümliche Musik; das über der ersten Galerie angebrachte Symbol der Buddhalehre, das „Churdé“, und die beiden „Tschalzans“ nebst dem „Handshir“ auf dem Dachfirste leuchteten bei ihrer reichen Vergoldung, trotz des Regens, weit in die Ferne hinaus. Was bedeuten diese Wahrzeichen?

Als der Buddha Schikitmunni sich in Baneres aufhielt, brachte ihm einer seiner Schüler ein goldenes Rad mit hundert Speichen und bat um ein Gebet, damit die Buddhalehre ebenso ausstrahlen möge, wie die Speichen des Rades nach allen Seiten hinweisen. Als der Buddha betete, kamen zwölf goldene Gazellen aus dem Walde, knieten vor dem Rade nieder und beteten mit. „Man muß glauben, weil ein unvernünftiges Tier es gethan,“ heißt es zum Schlüsse jener Ueberlieferung. Rad und Gazellen sind seitdem das Symbol des Buddhismus. „Tschalzan“ heißt „Zeichen des Sieges“, es ist ein Cylinder, gefüllt mit auf Papier geschriebenen Gebeten; „Handshir“ („voll Schätze“) ist eine umgestülpte Vase, welche denselben Zweck erfüllt. Erst nachdem ich das alles in Augenschein genommen, wandte ich mich dem Hause des Kanzleiverwalters zu, an den ich eine Empfehlung besaß. Allein ich fand ihn nicht zu Hause.

Nun stand ich bei strömendem Regen, angesichts von zweihundert leeren Wohnhäusern, faktisch „auf der Straße“, denn da die meisten Lamas kein Russisch sprechen, zum mindesten die mir zur Verfügung stehende Empfehlung nicht lesen konnten, so war ich unrettbar ihrem Mißtrauen preisgegeben. Endlich, nach längerem Hin- und Herreden, erbarmte sich meiner ein etatmäßiger Lama, und vor mir hergehend, führte er mich nach seinem Privathause, welches er eigens zur Aufnahme von Besuch erbaut hatte, woselbst er mich bestens aufnahm. Fast alle die zweihundert Häuschen in der Umgebung des Klosters sind Eigentum der zu den Festlichkeiten eintreffenden Buriäten, nur zehn von ihnen gehören Mönchen.

Wie der nicht hoch, aber stämmig gewachsene Greis in seinem gelben, faltigen Gewande, mit der roten Schärpe über der linken Schulter, vor mir herschritt, seinen kurzgeschorenen Kopf ohne Umhüllung dem eiskalten Regen preisgebend, da mußte ich lebhaft an die Zeit der alten Griechen zurückdenken; genau so wie einer ihrer Priester kam mir mein Wirt vor. In dem aus zwei Zimmern bestehenden Häuschen wurde mir ein reichliches Abendbrot vorgesetzt, dann erhielt ich die Weisung, in Gegenwart des in einem Glasschranke dastehenden Götzen „Maidari“ keinen Tabak zu rauchen, und man ließ mich allein. Trotzdem das Quartier ungeheizt, ich aber naß zum Ausquetschen war, schlief ich vorzüglich, eingehüllt in mehrere Priestergewänder und vor dem Glasschrank auf dem Boden liegend. Dazu hatte ich die Erlaubnis erhalten. So war die Nacht dahingegangen und endlich der Zeitpunkt da, wo ich zum erstenmal im Leben einen Heidentempel betreten sollte.

Nach einer Verfügung der russischen Regierung hat die lamaitische Geistlichkeit in Sibirien aus dem Bandido Chanbo-Lama, also dem Obergeistlichen, aus 34 Klostervorstehern, 216 Lamas und 34 Schülern zu bestehen. Ein großer Teil derselben hält sich im Dotzan am Gänsesee auf. Zu jeder Tageszeit kann man mindestens zwei Priester im Tempel antreffen.

Jeder zum Lama erhobene Gläubige leistet das Gelübde, nie in den Ehestand zu treten, er darf weder Tabak rauchen (wohl aber schnupfen), noch geistige Getränke zu sich nehmen, und soll sich überhaupt in Duldsamkeit und Nächstenliebe üben. Letztere beiden Eigenschaften habe ich durchweg geradezu bis zu einer idealen Vollkommenheit ausgebildet angetroffen. Man hatte mich mit Mißtrauen begrüßt, das auch noch lange nicht gewichen schien, aber keiner meiner Wünsche blieb unberücksichtigt.

Von meinem Wirt und einem Dolmetscher wurde ich in den Tempel geleitet. Wir passierten den durch einen hohen, roten Zaun abgegrenzten Tempelhof, der nach Norden, Süden, Osten und Westen vier Thore aufweist. Von dort stiegen wir einige Stufen zum säulengeschmückten Vestibül empor, auf dem zwei aus Holz gefertigte, abscheulich ausschauende Figuren, die einen Tiger und einen Löwen vorstellten, die drei Eingänge bewachten. Durch den mittleren derselben traten wir ein.

Im prächtig dekorierten, durch 25 feuerrote Säulen geschmückten Saale, der zahlreiche parallel mit den Ost- und Westwänden hinlaufende mit flachen, farbigen Sitzkissen versehene Pritschen aufwies, waren etwa ein Dutzend Lamas und ebensoviele Schüler versammelt, die unter lautem Getöse von Pauken und Metallbecken ihre gottesdienstlichen Handlungen ausübten. Alle hatten ihre „Nom“ (Gebete) vor sich und mit näselnder Stimme sangen sie dieselben vor sich her. Ich trat schüchtern vor, allein eine wohlwollende Handbewegung des Lamas benahm sofort jenes Gefühl. Er führte mich überall umher, ja selbst hinter die Barriere, wo in einer langen Reihe die Götzen aufgestellt waren, durfte ich treten.

Den Hauptplatz unter allen Götzen nahm der Burchan „Maidr“ oder „Maidari“, wie die Buriäten ihn nennen, ein, der von Schikitmunni, nach dessen Lehren im Tuschit (Himmel) zurückgelassen wurde, als jener zur Erde herabstieg. Er krönte ihn zuvor mit einem heiligen Kopfschmuck, in dem er auch hier abgebildet war. Im „Maidari“ verehrt der Lamaismus den zukünftigen Weltbeherrscher.

Im Antlitz stets gelb oder in Gold und Bronze prangend, dabei in allen Nachbildungen, die mir zu Gesicht gekommen sind, ein ganz eigentümliches Lächeln zur Schau tragend, bietet er sich dar – bald klein und handlich geformt, bald zu einem Koloß aufgebaut, der ein ganz besonderes Gebäude für sich beansprucht. So gab es auch hier hinter dem Haupttempel einen besonderen Pavillon, wo der Gott Maidari auf einem von Scheusalen getragenen Thron in einer Höhe von mindestens 35 bis 40 Fuß abgebildet saß. Vor dieser aus Cedernholz gefertigten und mit wohlriechenden Gräsern gefüllten Statue wird kein besonderer Gottesdienst abgehalten; dem Maidari dient man im Tempel sowie in zwei besonderen Festlichkeiten, welche unter freiem Himmel abgehalten werden. Dieselben bestehen in einem großen Umzug des Götzenbildes auf einem eigentümlichen Prunkwagen und in der einige Wochen später folgenden Ceremonie „Tsamm“, einem Maskentanze.

Die Vorbereitungen zum Umzug der Statue beginnen schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Festtag. Erstens gilt es ja, zahlreiche Gäste aufzunehmen, an welche zuvor Einladungen erlassen werden, dann wird der Wagen in Ordnung gebracht, neu angestrichen, und auch das große gleichfalls auf Rädern stehende Pferd vor demselben erhält ein neues grasgrünes Gewand. Sonstige noch vorhandene Pferde sind von Privatpersonen gestiftet.

Der Wagen ist von allen Seiten mit Gittern umgeben, in deren Mitte nachher ein Bildnis des Götzen Aufstellung findet, die Räder sind rot, das übrige gelb, blau, rot und grün angestrichen; das Ganze wirkt außerordentlich originell und durchaus nicht unschön, um so mehr, als große Mengen prächtigen Seidenzeuges beim Ausschmuck Verwendung finden. (Vergl. die Abb. S. 269.)

Am festgesetzten Tage[1] beginnt unter Trompeten-, Pauken- und Metallbeckenmusik der Gottesdienst im Tempel schon um fünf Uhr morgens, worauf gegen Sechs sich alle Einwohner des Klosters nebst einer großen Zuschauermenge auf dem Hofe einfinden. Die Klostergeistlichen haben sich nach Rang und Ordnung aufgestellt. Die Prozession eröffnet der Bandido-Chanbo-Lama mit zwei bis drei Assistenten, indem er eigenhändig eine Statue des Maidari trägt und sie auf den Wagen setzt, worauf weitere Lamas fünf Bände der heiligen Schrift über jenen Götzen herbeitragen und nebst ihnen wohlriechende Lichter, Räucherfäßchen, Blumen etc. zum Bildnis legen. Dann beginnt der Marsch.

Voraus gehen zwei Lamas mit zusammengewickelten Pantherfellen in den Händen, mit denen sie um sich schlagend das zudringliche Volk abwehren, und in dieser Pflicht werden sie durch zahlreiche Kollegen mit Peitschen in den Fäusten unterstützt. Dann kommen zwei Mönche, die auf großen Seemuscheln blasen, dann solche mit anderen Musikinstrumenten, die einen Höllenlärm verursachen, und dem gelben Schirm des Maidari, dann Wagen und Pferd, die von Lamas gezogen werden, und schließlich Hunderte von angereisten Geistlichen, die alle bemüht sind, nach Möglichkeit viel Spektakel zu machen. Hohe Geistliche werden in Sänften getragen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0270.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2020)
  1. Vgl. Posdnejews Werk über Lamaïtische Klöster (in russischer Sprache).