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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

kümmern Sie sich nicht darum. So arg es aber auch sein mag, das Elend in den niederen Schichten der Stadtbevölkerung ist ärger, weil es Thür an Thür, oft sogar Ellbogen an Ellbogen mit dem Auswurf wohnt. In diesem Elend bin ich vor fünfundfünfzig Jahren geboren worden.“

Unwillkürlich wich Joseph zurück: „Deshalb also“ … Er vollendete nicht, es war überflüssig; Heideschmied hatte ihn schon verstanden.

„Deshalb, meinen Sie, Ihre instinktive Abneigung gegen mich, und thun sich was zu gute auf Ihren Instinkt. Nun, auch ich durfte mich auf den meinen verlassen. Mit kaum erschlossenen Augen sah ich mehr des Schlechten, als Sie sich träumen lassen können, Joseph … und Beispiele wurden mir gegeben – ein für dergleichen nur halbwegs empfänglicher Boden, und überwuchert wäre er gewesen vom Unkraut des Lasters. Ich blieb verschont, dank meinem Instinkt und einem andern guten Ding – Ekel vor dem Niedrigen. Nicht viele von uns waren damit begnadet. Das Elend hat eines mit der thätigen Barmherzigkeit gemeinsam, es kennt den Ekel nicht. Mich hat er vor manchem bewahrt, wovor meine Eltern mich nicht hätten bewahren können. Wie sollten sie? Sie arbeiteten tags über, der Vater in der, die Mutter in jener Fabrik; er warf sich erschöpft hin, wenn er heimkam, und schlief. Er hatte unterwegs schon gegessen.“

Und getrunken, dachte Joseph.

„Die Mutter fütterte uns, besorgte die Kleinen und wachte dann noch einen Teil der Nacht, nähte, flickte. Ich leistete ihr Gesellschaft. Mir als dem Aeltesten kam es zu, mich nützlich zu machen; ich verfertigte kleine Windmühlen und bunte Kreisel und eröffnete ein Geschäft. Ja – staunen Sie! Ein Kompagnon trug meine Waren aus, während ich mich in der Schule befand oder zu Hause die Kleinen hütete.

Im Anfang ging das Geschäft gut, dann kam es ins Stocken, vielleicht war der Kompagnon nicht sehr reell. Meine Mutter kränkelte, wurde immer schwächer, wurde entlassen. Nun übernahm sie es, unsere Waren auszutragen, sie schleppte noch den schweren Korb – ich machte jetzt außer Spielzeug auch Sachen für den Hausgebrauch, Bürsten und dergleichen – als sie sich selbst kaum mehr schleppen konnte … Aber die vielen Kinder, die warteten, die essen wollten … die vielen Kinder und nur zwei Erwerbende …“

„Drei, mein’ ich doch,“ unterbrach ihn Joseph, „es war doch auch Ihr Vater da.“

Heideschmied schien plötzlich befangen: „Der Vater – ja … o, er war ein Erwerbender, aber mehr sporadisch.“

Eine kleine Pause entstand.

„Summa Summarum, ich hatte allerlei Mühsal in meiner Kindheit,“ fuhr Heideschmied nachdenklich fort. „Mein höchstes Bestreben aber war: die Schule nicht versäumen, nur lernen. Wenn ich etwas gelernt haben werde, wird alles gut, und alle die Meinen werden versorgt sein.“ Wieso? wußte ich freilich nicht, ich glaubte es und war stark durch diesen Glauben … Lauter Gnaden … Wenn ich den Glauben nicht gehabt hätte, was würde ich angefangen haben während des langen Siechtums meiner Mutter, das ihrem Tode voranging? Und nachher … als die Güte und Hilfsbereitheit eines edlen Menschen mir zum Unheil ausschlug? – Einer meiner Professoren hatte mich lieb gewonnen, sich über meine häuslichen Verhältnisse unterrichten lassen und war unser Wohlthäter geworden. Der Vater erhielt durch seine Vermittelung eine gut besoldete Stelle. Leider war sie auch eine verantwortliche und setzte ihn mancher Versuchung aus. Er bestand sie nicht. Da triumphierte der Neid der vielen, die sich einer Bevorzugung – wohl mit Recht – würdiger gefühlt hatten, und wir waren niedergebrochen und sollten nicht mehr aufkommen. Der Neid und in seinem Gefolge die Verleumdung sorgten dafür. Bis dahin meinte ich nur, gekämpft zu haben, mein wahrer Kampf begann erst jetzt. Man muß unter der Last der schlechten Meinung geseufzt haben, um die dunkle Seite des Lebens und seine Grausamkeit zu kennen. Ich sage absichtlich ‚des Lebens‘ und nicht ‚der Menschen‘. Den Menschen im allgemeinen und gar im besonderen geschieht unrecht, wenn wir sie für die Urheber unseres Schicksals halten, sie sind nur sein Motor. Ich ahnte das damals schon und haßte die Nachbarn nicht, die mir ‚Diebssohn!‘ nachriefen, und auch nicht die Schulkameraden, die sich die Taschen zuhielten, wenn ich ihnen in die Nähe kam.

Uebrigens hatte ich eine Stütze an meinem alten Gönner, der nicht aufhörte, sich meiner anzunehmen, mir Lektionen und Stipendien verschaffte und nicht fragte, wohin denn mein Geld kam, wenn ich wieder in defekter Kleidung vor ihm erschien. Mein armer Vater hatte oft versucht, sich aus seinem Elend aufzuraffen, sank aber immer und jedesmal tiefer, bis er sich endlich nicht mehr erhob … Von den Kindern starben einige weg, einige konnt’ ich versorgen. Sie leben und verdienen ihr Brot. Eine ist mir verloren gegangen, eine Schwester. Das Ringen mit der Not wurde ihr zu schwer, und der Anblick unseres armen Vaters erbitterte sie. Sie war jung, sie war schön … ‚Damit läßt sich Reichtum und Wohlleben gewinnen,‘ bekam sie öfter zu hören als ihr gut war, und wenn ich ihr Vorstellungen machte, sagte sie: ‚Laß mich, zu Ehren bringst du uns doch nimmer‘ ... Einmal kam ich heim und fand sie nicht … Die Tage, an denen ich sie suchen ging, ihr nachspürte wie ein Hund, Verzweiflung im Herzen, das waren böse Tage … Sie können mich nicht ganz verstehen, Joseph, aber Sie lieben Ihre Geschwister, vorstellen können Sie sich, wie mir zumut gewesen ist, als ich damals meine Schwester …“

Die Stimme Heideschmieds wurde immer leiser und verschleierter und verlosch völlig bei den letzten Worten.

„Ich verstehe alles,“ sprach Joseph selbstbewußt. „Ich bin kein Kind mehr.“ Er vermied den Alten anzusehen, setzte sich und sagte: „Und dann?“




„Und dann?“ Er warf einen dankbaren Blick auf den Jüngling: „Dann machte ich die Erfahrung, daß man ganz ordentlich gelernt und die Seinen dadurch doch nicht erlöst haben kann. Und dann kam das Freiwilligenjahr, diese bittere Prüfungszeit des Mittellosen, und die Heimkehr, bei der ich alles noch schlimmer fand, als ich ohnedies gefürchtet hatte. Endlich der Tod meines Vaters und das Wiedererwachen des alten Grolls gegen uns. Weil … man muß auch für die moralischen Begriffe der Armen und Elenden schonendes Verständnis haben – weil nach ihrer Meinung unsere Schwester ein Glück gemacht hatte. Das käme uns zu gute, waren sie überzeugt. Und auch diese Schmach stählte mich, und statt unter ihr zu erliegen, bäumte ich mich auf und dachte: Ich werd’ euch schon zeigen!“ …

Der Alte blinzelte Joseph mit einem fast schelmischen Ausdruck an, der seine verwitterten Züge plötzlich erhellte: „Wie ich mir jetzt Ihnen und Ihren Brüdern gegenüber fortwährend denke: Ich werd’ Euch schon zeigen! – Nun also! – Ich will Sie mit Details nicht langweilen, nur sagen … es klingt hoffärtig, ist aber nicht so empfunden: Das Leben hat für den aufwärts Strebenden, der noch andre mit sich ziehen möchte, keine Klippe und keinen Dornstrauch, an dem nicht etwas von meiner Haut und etwas von meinem Blut hängen geblieben wäre. …

Ich stand in mehr als reifen Jahren, als mir die Stelle eines Erziehers in einem guten Hause angeboten wurde. Das Haus gut, o ja! sogar vortrefflich – die Kinder schwierig.“

„Wie bei uns?“

„Aerger. Sie und Ihre Brüder sind gegen mich nicht liebenswürdig, Sie können es aber gegen andre sein. Das konnten meine früheren Zöglinge nicht. Sie waren aus altadeligem Geschlecht, aber“ – er beugte sich über den Tisch und flüsterte Joseph geheimnisvoll zu: „gemeine Seelen. ‚Nicht drei Wochen,‘ prophezeite mir mein Vorgänger, ‚halten Sie es dort aus.‘ Ich blieb zwölf Jahre und habe wieder für eine Gnade zu danken. Die Existenz in diesem Hause war schlecht, aber mein Glück hab’ ich in ihm gefunden.

Gerade um die Zeit, in der mein Mut zu sinken begann und ich oft dachte: Es ist genug, lieber Karrenschieber sein! kam mir Trost in Gestalt einer Leidensgefährtin. Die Schwestern meiner Zöglinge erhielten eine Gouvernante, eine Französin, Mademoiselle Eugénie Villette. Fein, verständig, wacker. Sie hatte es um kein Haar besser als ich und klagte nie. Vier Jahre liebte ich sie im stillen, vier Jahre war sie meine Braut. Dann hatten wir unsre Aufgabe gelöst; ich trat in den Genuß meiner Pension, Eugénie besaß kleine Ersparnisse, wir konnten heiraten.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0294.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)