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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

sie immer zur Kleinen, ob sie im Garten oder auf ihrem Zimmer war – versank die Märchenwelt. Sie lief den Brüdern in die Stallungen nach, und bald mußte für sie auch ein Pony gezäumt und gesattelt werden. Kosel selbst nahm ihr Pferdchen an den langen Zügel, und sie trabte neben ihrem zerstreuten Papa einher, der ihr oft zulächelte, ihr aber gar keinen Unterricht gab. So wurde sie eine ungeschulte, aber kecke Reiterin und nahm die „arme Kleine“ nicht mit auf den Rücken des Pferdes. Die legte sie ab mit ihrem weißen Kleidchen, wenn sie ihre „Amazone“ anzog, um wieder hineinzuschlüpfen, sobald sie von ihrem Rößlein gehoben wurde.

Auf dem Turnplatz zeichnete sie sich ebenfalls aus, vor einem ständigen Publikum, das jetzt weniger feindselige Elemente zählte, weil die Kleine mit ihrer um Liebe und Mitleid werbenden Miene öfters vor ihm erschien und Geschenke verteilte.

Seitdem Joseph den größten Teil des Tages in Vrobek zubrachte, war überhaupt ein längerer Waffenstillstand eingetreten, und erst gegen das Ende der Ferienzeit wurde er unterbrochen.

In den Gärten Leopolds und Franz’ waren neu angelegte Blumenbeete zerstampft, Bäume ihrer schönsten Zweige beraubt worden. Zum Ueberfluß flogen eines Morgens Steine von der Straße herüber, von denen einer die Schulter Elikas streifte. Da sprang Franz über den Zaun, erwischte den Uebelthäter und bläute ihn durch.

Auf das hin Klage der Eltern des Gezüchtigten beim Bezirksgericht, Zeugenverhör, wachsende Erbitterung der drei jungen Herren, als die Entscheidung des Gerichtes günstig für die Dorfbewohner ausfiel.

Um die Zeit fand ein Ereignis statt, dessen wirklicher Hergang für die Schloßbewohner in Dunkel gehüllt blieb. In ganz Velice hätte nur ein Erwachsener genaue Auskunft darüber geben können: der Herr Schullehrer. Und der schwieg, verriet nicht, daß er Zeuge einer Schlacht gewesen war.

Etwa zwanzig Knaben aus dem Dorfe hatten die drei Brüder gestellt. In einem Hohlweg, der zwischen Bauernfeldern lag.

„O je, die Herren!“ rief der rote Vichoda, grinste und riß höhnisch die Mütze vom Kopf.

Baros, der Bürgermeisterssohn, bläst sich auf, steckt die Hände in die Taschen:

„Woher? Vom Bauernfeld. Was haben Sie auf dem Bauernfeld zu suchen?“

Sogleich ging’s zu wie im ersten Auftritt von „Romeo und Julie“.

„Sucht ihr Händel?“

„Wenn ihr Händel sucht, ist’s recht.“

„Wir stehen zu Diensten.“

„So, ihr drei?“

„Hierher, Franz, Leopold, hier Schloß!“

„Hier Dorf!“

„Gesindel!“

„Wer – Gesindel?“

„Wer fragt.“

„Oho: Wartet ihr!“

Eine Schar wilder Jungen stürzt sich über die drei. Die sind gewandter als die Gegner, mutiger, ruhiger. Ein halbes Dutzend Feinde haben sie bald unlustig gemacht, den Krieg fortzusetzen. Doch ist die Ueberzahl zu groß, sie müssen endlich weichen, und der älteste und kühnste von ihnen kommt nicht dazu, seine ganze Kraft zu entfalten, weil er beim Angriff immer zugleich für die Verteidigung seiner Brüder sorgt.

Der Kampf war schon heiß entbrannt, als der Schullehrer, von einem Spaziergang heimkehrend, in die Nähe des Schlachtfeldes kam. Ein Strauch wilder Rosen an der Biegung des Weges verbarg ihn, und behaglich konnte er zusehen, wie die jungen Herren geklopft wurden.

Am härtesten bedrängt war Franz und auch am erregtesten von allen. Joseph verfolgte ihn mit den Augen und rief ihm einmal ums andere zu:

„Aergere dich nicht, wehr dich!“

Leopold bewahrte seinen guten Humor. Seine Spottreden prasselten und flogen, mancher Schlag, der ihn treffen sollte,ging fehl, weil der Angreifer beim Ausholen hatte lachen müssen. Aber die Schläge, die er austeilte, trafen alle und saßen fest. Jetzt unterliefen ihn ein paar Buben, er verlor das Gleichgewicht und war schon im Stürzen, als Joseph zu Hilfe kam und ihn aufrecht erhielt. Im nächsten Augenblick waren ihrer zehn über den beiden und die verdienten sich heute wieder ihren Spitznamen: die Löwen. So schön und großartig war ihre Kampfweise, daß einige, die mitgethan hatten, austraten, um zuzusehen. Sogar einen Bundesgenossen bekamen sie. Hanusch, der Sohn des Zimmermanns, ein Knopf von einem Burschen, stämmig wie ein Amboß, mit Fäusten wie Holzschlägel, rief auf einmal: „Hie Schloß!“ und parierte einen Hieb, der nach Joseph geführt wurde.

Nun gellte ein Schrei der Wut aus dem Getümmel, aus dem eben noch der Kopf des Bruders Franz geragt hatte. Eine Schar kleiner Jungen warf sich über einen, der am Boden lag.

Joseph brüllte: „Franz! Franz! sie haben ihn niedergerissen!“

Mit der Bewegung eines kräftigen Schwimmers keilte er die Arme in das Rudel der Feinde, schob sie auseinander und schleuderte sie hinter sich, daß sie reihenweise hinpurzelten, Leopold und der Hanusch vom Zimmermann deckten ihm den Rücken. Ein paar Schritte und er ist bei Franz, ein paar Fußtritte und die kleinen Bedränger kugeln nach rechts und nach links. Den letzten hebt er beim Hosengurt in die Höhe und der zappelt mit allen Gliedern wie eine aufgespießte Kreuzspinne.

Der Schullehrer eilt aus seinem Versteck herbei und zetert: „Mein Wenzi! Lassen Sie ihn! Ruhe! Ruhe!“

Joseph wendet sich, spricht kein Wort, wirft mit einer verächtlichen Gebärde dem Lehrer seinen Sprößling in die Arme und blickt zu Franz nieder.

Leopold kniet schon bei ihm und will ihn aufrichten. „Laß, laß, ich kann schon allein,“ sagt er, sieht mit unheimlich glasigen Augen um sich und sinkt zurück.

„Wenn er tot ist, müßt ihr alle sterben!“ donnert Joseph die Bauernkinder an, einige bleiben trotzig stehen, die meisten wenden sich eingeschüchtert ab, der Schullehrer tritt hinzu, seinen Wenzi führend, erschrickt und ruft:

„Franz! Jesus Maria, was ist ihm?“

Leopold hat die Hand auf das Herz seines Brudes gelegt – es schlägt – nach kurzem Stillstand schlägt es wieder, hastig, unregelmäßig … aber es schlägt doch wieder. „Was habt ihr ihm gethan?“ fragt Leopold, der immer Ruhigere, seine Angst verbeißend.

„Wir haben ihm nichts gethan!“ antwortet einer und der rote Vichoda setzt boshaft hinzu:

„Er hat sich nur geärgert.“

„Ja, ja, nur geärgert,“ klingt’s im Chor.

Und jetzt, ganz energisch setzt Franz sich auf, wischt mit der Rechten übers Gesicht, sie blutet. „Nichts haben sie mir gethan,“ sagt er laut.

„Franz! Herr Franz!“ wimmert eine Kinderstimme. Wenzi macht sich vom Vater los und läuft auf Franz zu und küßt ihm die blutende Hand, und stellt sich hin und heult und plärrt wie nur ein slavisches Kind heulen und plärren kann. Bäche fließen aus seinen Augen in seinen Mund, über sein Gesicht, das auf einmal voll Falten ist und ordentlich alt aussieht. „Lieber Herr Franz, ich hab’ Ihnen nichts gethan, ich hab’ Sie nur gebissen, ein wenig, ein wenig gebissen!“

Am nächsten Tag ging im Dorfe viel junges Volk hinkend und mit verbundenen Köpfen umher, und Heideschmied staunte über die blauen Flecke, mit denen seine Zöglinge bedeckt waren. Da ihnen aber nichts fehlte und sie seine Fragen über den Ursprung dieser vorübergehenden Tättowierung ausweichend beantworteten, versuchte er nicht, sich in ihr Vertrauen zu drängen.

Diese Schlacht war die letzte, die zwischen der kriegerischen Dorf- und Schloßjugend geschlagen wurde. Wie immer ihre Beziehungen zu einander sich auch gestalteten, zu Thätlichkeiten kam es nicht mehr.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0326.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)