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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Elika war unzufrieden mit ihrem Bruder Joseph. Er kümmerte sich viel weniger um sie als früher, ihr Einfluß auf ihn verminderte sich. Wenn sie sonst geklagt hatte: „Joseph, ich bin müd’“, „Joseph, ich hab’ Kopfschmerzen“, hatte er sie immer unendlich bedauert. Hieß es aber gar: „Joseph, ich hab’ Herzweh“, dann kam er um alle Seelenruhe. Hatte doch der Arzt in Wien den Ausspruch gethan, Elika könne infolge ihrer Blutarmut herzleidend werden. Franz erfuhr es und erzählte es ihr, und seitdem bekam sie „Herzweh“, wenn ihr etwas Unangenehmes begegnete. Es war keine Lüge – sie sagte überhaupt keine Lüge. Das leidige Schmerzgefühl stellte sich wirklich bei der geringsten Veranlassung ein, und sie versäumte nie, ihre Umgebung nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen.

Und dann war Joseph unendlich besorgt und liebreich, und was sie nur wünschte, hätte er ihr bringen und verschaffen mögen.

Und jetzt machte sie oft ganz vergeblich ihre traurigsten Kopfschmerz- und Herzwehaugen, er bemerkte es nicht. Es fiel ihm auch seltener ein als früher, ihr etwas zu schenken, und sie kam sich dadurch sehr zurückgesetzt vor. Joseph sollte nichts besitzen, das er ihr nicht gern dargebracht hätte.

Als Beweis seiner Liebe verlangte sie’s, nicht aus Habgier; sie nahm, um zu geben. Wenn sie auch nicht den „Schenkteufel“ (Apollonias Wort) in sich hatte, wie ihre Brüder, gab sie doch auch gern, nur anders. Ihre Brüder besaßen die göttlich leichtsinnige Großmut, die schenkt, aus Freude am Schenken, sie gab mit Bedacht und bedauerte sich dabei, weil sie nun die oder jene Lieblingssache nicht mehr hatte. Sie brachte Opfer und erwartete Bewunderung und Joseph hatte ihr die seine bisher immer gezollt. In letzter Zeit freilich auch nicht mehr so warm wie sonst.

Elika kam sich beschädigt, beraubt, aus seinem Herzen verdrängt vor, und ein verläßlicher Spürsinn sagte ihr durch wen.

Wo brachte er jeden freien Augenblick zu? Von wem sprach er fortwährend, wenn er heim kam? Und was Elika nicht begreifen konnte und was sie verdroß und ihr lächerlich erschien: der ganze Mensch veränderte sich, wenn Tante Luise unerwartet ins Zimmer trat. Da bekam er ein andres Gesicht, wurde verlegen bis zur Bestürzung, und seine Stimme klang gequetscht und fremd.

Was sollte das heißen? Was hatte das zu bedeuten? Sie wußte es nicht, aber es beleidigte und empörte sie, und sie ließ ihn bei solchen Gelegenheiten nicht aus den Augen. Unbarmherzig verfolgte ihn ihr spöttischer Blick, und er geriet oft in Versuchung, die Faust zu erheben gegen die boshafte kleine Kröte und sie niederzuschmettern. Aber dann, sobald sie bemerkte, daß er begann, die Herrschaft über sich zu verlieren, daß Gefahr drohe, neigte sie ihr Köpfchen zur Seite und sah hilflos drein, und der starke Joseph war entwaffnet.

Daß sie von ihrer Bedeutung für ihn verloren hatte, ihm weniger wichtig geworden war, davon gab er sich keine Rechenschaft. Und würde man ihn aufs Gewissen gefragt haben, er hätte antworten dürfen: sie ist mir so lieb wie je. Aber sich viel mit ihr zu beschäftigen, war ihm nicht mehr möglich. Seine Seele war zu voll von Qual und Bitternis. Der Umgang mit seinen Geschwistern hatte allen Reiz für ihn verloren, ihre Freuden und Leiden, ihre Spiele und ihre Studien erschienen ihm kindisch.

Die anderen aber, die Erwachsenen, die waren blind; sogar sie, die das Ziel seiner Wünsche und der Inhalt seiner Gedanken war, die leidenschaftlich Angebetete, behandelte ihn wie einen unreifen Knaben, zu dem sie freundlich bemutternd sprach: „Sei fleißig, Joseph! Lerne, ich bitte dich, lerne! Ich habe dich so lieb, ich möchte gar zu gern auch stolz auf dich sein.“

Sie ahnte nichts von der Grausamkeit dieser Bitte. Er hätte alles für sie thun können, rauben, morden – aber lernen konnte er nicht.

Ihre Nähe fing an, eine Qual für ihn zu werden, nach der er dürstete, ihre liebreiche Art war ihm ein Balsam, schlimmer als Gift.

Manchmal brachte er es über sich, einen ganzen Tag vergehen zu lassen, ohne Vrobek zu betreten, wo er sich notwendig und erwartet wußte. Dann kam Luise am Abend zu den Tanten und fragte:

„Was ist mit meinem Getreuen? Warum hat er mich heute verlassen?“

Joseph wurde gerufen und ließ sagen, er habe keine Zeit, er müsse studieren, oder er war schon im Augenblick, in dem Luise im Schloß erschien, auf und davon gerannt über Stock und Stein wie wahnsinnig. Sehr oft trieb es ihn wieder nach Hause zurück, er wartete im Garten auf sie und ging ein Stück Weges mit ihr, und dann noch ein Stückchen und immer noch ein Stückchen weiter. Entließ sie ihn am Ende des Waldes von Valahora mit einem herzlichen: „Jetzt aber gute Nacht, du Kind!“ wie oft that er da nur dergleichen, sich heimwärts zu wenden, umraste einen Hügel, der ihn vor ihr verbarg, und stand an der Thür des Hauses, wenn sie dort ankam, und sagte ihr ein zweites Mal Lebewohl.

Und nun mußte er erst recht hören: „Du Kind!“

Gegen Ende des Ferienmonats sagte Herr Heideschmied: „Lieber Joseph, wir müssen nun wieder anfangen, ernstlich zu studieren. Es ist allerhöchste Zeit, dieses Mal müssen Sie durchkommen in der dritten Klasse.“

Er blieb starr, als ihm Joseph mit eiserner Ruhe, mit der Festigkeit eines unwiderruflich gefaßten Entschlusses erwiderte: „Ich lasse mich nicht mehr prüfen, Herr Heideschmied. Es ist aus.“

„Joseph, Joseph,“ stammelte Heideschmied traurig und leise. „Sie müssen studieren, mein armer Joseph. Sie müssen die Matura ablegen. Sie werden doch nicht drei Jahre als gemeiner Soldat dienen wollen?“

Der Jüngling hatte ein verächtliches Achselzucken: „Und was weiter? … Zum Militär – lieber heut’ als morgen … Kommisbrot würg’ ich hinunter, Ihre Ambrosia der Buchweisheit hol’ der Teufel!“

Heideschmied sah ihn betrübt an und sagte: „Sie sind heute sehr aufgeregt.“

Da sprang Joseph empor und warf sich ihm in die Arme mit einer Wucht, die ihn wanken machte. Das Herz des Jünglings pochte wie mit Hammerschlägen an der Brust des alten Mannes, er schluchzte. „Ich schäm’ mich,“ brach es aus seiner gewürgten Kehle hervor: „Ich ertrag’s nicht mehr. Ich dank’ Ihnen, Herr Heideschmied, für alle Mühe, die Sie sich mit mir gegeben haben. Ich bitte Sie auch um Verzeihung, ich war im Anfang schlecht gegen Sie, ja, ja, schlecht und gemein, verzeihen Sie mir, Herr Heideschmied!“

Er stürzte aus dem Zimmer und ließ sich vor Abend nicht wieder blicken.

Luise war am Nachmittag nach Velice gekommen, kurz bevor ein schweres Gewitter, das seit Stunden drohte, niederging. Nach dem Souper wurde eingespannt, und sie fuhr in noch strömendem Regen heim. Das Gartenthor war hinter dem Wagen geschlossen worden, der Kutscher bog eben im scharfen Trabe auf die Straße ein, als ihm ein herrisches „Halt!“ zugerufen wurde. Joseph stand da unter einem Baume. Beim Schein der Laterne sah Luise, daß er totenblaß war und daß seine Augen düster flackerten. Plötzlich sprang er auf das Trittbrett und steckte den Kopf unter das Wagendach.

„Joseph, mein lieber Junge,“ sagte Luise und legte ihre Hand auf seine zerzausten Haare. Er nahm diese Hand, küßte und küßte sie. Durch den Handschuh fühlte Luise das Glühen seiner Lippen:

„Leb’ wohl – sehr wohl … Hörst du?“ keuchte er, stand im nächsten Augenblick auf dem Boden und befahl dem Kutscher: „Vorwärts!“

Im Hause auf dem Gang traf er Elika auf dem Wege nach ihrem Zimmer, lief ihr nach und flüsterte ihr zu: „Wenn Poli eingeschlafen sein wird, dann steh’ auf und öffne die Thür von deinem Lernzimmer. Ich muß dir etwas sagen, dir allein. Gieb acht, daß Poli nicht erwacht.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0327.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)