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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Wie hatte Josepha unter diesen Verhältnissen gelitten! Hundertmal hatte sie es bedauert, daß sie nicht vermochte mit den Wölfen zu heulen, und daher stand sie wie ein Fremdling inmitten ihrer Familie mit ihren streng rechtlichen Ansichten, die sie ebenso unerläßlich für den Edelmann wie für den Bürger hielt, und die in ihrer ganzen Sippe nicht zu finden waren.

Sie geht in das Schlafzimmer und holt sich ein Brausepulver, zündet die Lampe an und setzt sich zum Schreiben. Ihre Hand zittert, als sie die Feder eintaucht, aber nach und nach wird sie fester und die großen steifen Buchstaben bedecken einen Bogen nach dem andern. Mögen sie diese Zeilen auf immer trennen von Schwester und Nichte, es ist ihr gleichgültig, wissen müssen sie wenigstens, wie sie denkt über solch unerhörten Leichtsinn. – 0000000000

Und dieser Brief trifft Edith in Neapel; während des Diners im Hotel Haßler wird er ihr gebracht mit verschiedenen andern Postsachen. Man hat eben für den andern Morgen eine Fahrt nach Pozzuoli verabredet, sie und ein Rittergutsbesitzer v. Mardeveld aus dem Hannöverschen, der mit seiner kränklichen Frau reist, sowie ein preußischer Gardeoffizier, der erst vorgestern von Monte Carlo heraufgekommen ist, um die Bella Napoli kennenzulernen, bevor er nach Kairo geht, weil die Lunge ein bißchen angeknackst sein soll, wie der Regimentsarzt daheim behauptet hat.

Edith will auch hinüber nach Kairo, wie sie gestern erzählt hat, das heißt, sie weiß es noch nicht bestimmt, hofft es aber. Sie ist sehr elegant gekleidet in ein graues Tuchkostüm mit schmalem Zobelbesatz, trägt die Haare, wie die Neapolitanerinnen aus dem Volke, mit einem Schildkrotkamm hoch auf den Scheitel gesteckt und hängende Brillanttröpfchen in den Ohren. Unglaublich reizend sieht sie aus, weiß es aber auch. Tante Tonette ist desto niedergedrückter; von Tag zu Tag hat sie gewartet auf einen Brief von Mohrmann, der die Bitte enthält: Komm’ wieder, Edith, es ist alles vergessen! Bis jetzt ist ein solcher Brief nicht gekommen, und Abend für Abend fleht sie ihre Nichte an: „Schreib’ du ihm zuerst, sage, du willst alles thun, um deine Uebereilung wieder gut zu machen.“

Ein Achselzucken und die Antwort: „Wenn er’s nicht will, ich habe keine Eile!“ ist ihr regelmäßiger Bescheid darauf. Wie es aber im Herzen der schönen Frau aussieht, bekommt Tante Tonette nicht zu erfahren.

Ach, und die alte Dame ist so innerlich zermürbt, sie sehnt sich so nach Ruhe. Diese ihr sicher schon verhaßten Hotelbetten, dieses ewige Gasthausessen, das grelle elektrische Licht, die befrackten Kellner und die langen Diners, diese ermüdenden Opernvorstellungen, nach denen sie noch ein Souper aushalten muß zwischen ihr total gleichgültigen Menschen, die ihre Nichte anschwärmen – sie ist förmlich krank vor Heimweh nach Wartau, nach ihrem gemütlichen Zimmer mit der Aussicht auf die Felder, nach den Kindern – ach, ihr kleiner Lothar, der so süß schmeicheln kann: ‚Hast du Otho lieb, Droßtante?‘ Sie kämpft jedesmal mit Thränen, wenn sie an den Jungen denkt.

„Hast du einen Brief aus Wartau?“ fragt sie flüsternd die Nichte, die in einer sehr animierten Unterhaltung begriffen ist über Pompeji, das sie heute früh besuchte, um einer Ausgrabung beizuwohnen. Tante Tonette muß dreimal fragen, das letzte Mal mit einem energischen Zupfen am Aermel.

„Ja?“ fragt Edith, sich etwas heftig umwendend, „ob ein Brief aus Wartau dabei ist? Sieh doch selbst nach,“ und sie giebt ihr drei oder vier Briefe hin, schon wieder mit ganzer Seele bei dem Gespräch der andern.

Ein zweites Zupfen am Aermel. „Es ist einer von Josepha dabei, darf ich ihn lesen, Edith?“

„Ja, bitte, ist mir sogar sehr lieb, ich weiß ohnehin schon, was darin steht,“ antwortet Edith, und der Hauptmann aus Berlin wiederholt noch einmal das Schlußwort seiner langen Rede:

„Jradezu fabelhaft malerisch!“

Der Kellner präsentiert eben Butter und Käse, die Sängerbande im Vorraum singt „O dolce Napoli“ und der Hauptmann beginnt einen neuen Satz: „Jradezu fabelhaft dieser Verkehr auf dem Toledo, Berlin wie ausjestorben dajegen. Ich muß gestehen, ich kann’s nicht vertragen, wenn ich anjerempelt werde, und hier wird man ja auf Schritt und Tritt jerempelt, werde künftig nur noch fahren.“

„Das macht mir gerad’ Spaß,“ sagt Frau v. Mardeveld und spricht das S und das P einzeln aus bei „Spaß“.

„Jradezu unjlaublich!“ erklärt der Offizier.

„Aber, ich bitte Sie, Wenn man jahraus jahrein auf einem einsamen Gute lebt, so kann man während der paar Reisewochen gar nicht genug Menschen sehen,“ verteidigt sich die nette Frau. „Nicht wahr, Frau Mohrmann? Was sieht man denn auf dem Hofe? Hühner und Gänse und, wenn’s hoch kommt, den Herrn Verwalter.“

„Und deinen Mann!“ bemerkt ihr Gatte.

Sie nickt ihm zu mit liebevollen Blicken, „aber dich sehe ich ja auch hier, Heinrich!“

„Natürlich! Ich möchte auch wohl wissen, was aus dir werden sollte auf Reisen – ohne mich?“

„O, man kommt allein auch durch die Welt als Dame,“ scherzt Edith, „wie ich bestens beweisen kann. Selbständigkeit lernt sich sehr leicht und ist doch auch sehr angenehm.“

Tante Tonette sitzt mit völlig zerknirschter Miene da, den zusammengefalteten Brief in ihrer zitternden Hand. Sie fühlt sich unfähig, noch länger hier zu bleiben, und flüstert ihrer Nichte zu: „Ich gehe immer voran.“ Sie keucht zu den zwei Treppen hoch gelegenen Zimmern hinauf, die Edith gemietet hat, und oben angelangt, setzt sie sich ans Fenster und schaut auf das dunkle Meer hinaus, das jenseit der Quaimauer unter einem heftigen Südwind wogt. Der Himmel ist völlig sonnenlos, es scheint zu regnen, und die alte Dame faltet die Hände und sagt laut: „Mein Gott, wie soll das enden?“

Was Josepha ihr da schreibt, hat sie ganz wirr und irr gemacht. – Wenn nur Edith bald käme, sie muß doch mit ihr reden, ernstlich reden! Edith darf nicht länger bummeln, sie soll zurück, sie ist’s ihm schuldig, das erste Wort zu sprechen. Tonette hält sich überzeugt, daß dieser gutmütige große Mensch mit offnen Armen wartet, sobald er den kleinsten Beweis erhält, daß seine Frau den Wunsch hegt, zurückzukehren; daß er schon zufrieden sein wird, wenn sie sagt: laß uns versuchen, weiter miteinander zu leben – um der Kinder willen!

Wie sie so lange bleibt!

Der Sturm draußen ist heftiger geworden und die See wirft hier und da klatschend eine Welle über die Quaimauer, so daß die Leute auf die Häuserseite flüchten. Die neue Jungfer, die Edith in Venedig gemietet hat für die Reisezeit – es ist eine Oesterreicherin – singt ein Lied im Nebenzimmer mit greller Stimme und öffnet dabei Schrankthüren und Kommodenschübe; sie legt Ediths Theatertoilette zurecht; in San Carlo wird die „Cavalleria“ gegeben mit einem berühmten Mailänder Sänger. Edith hat eine Loge mit Mardevelds und dem Hauptmann gemeinschaftlich bestellt.

Tante Tonette bliebe so gern daheim, aber Josepha hat ihr das Versprechen abgenommen, Edith nicht von der Seite zu gehen; eine qualvolle Pflicht, wenn man sechzig Jahre alt ist und kein sorgenfreies Herz hat.

Endlich öffnet sich die Thür und auf dem hellen Grund des elektrisch beleuchteten Vorsaales erscheint einen Augenblick die Silhouette Ediths, dann herrscht wieder Dunkelheit. Nur das leise Rauschen des seidengefütterten Kleides verrät ihre Anwesenheit der vom Licht geblendeten alten Dame.

„Edith,“ sagt sie vor Aufregung ganz heiser, „Edith, nun bitte, höre mich ruhig an, es ist wirklich die höchste Zeit, einzulenken – wir müssen heim.“

Edith, die eben den Knopf der elektrischen Leitung drücken will, um Licht zu schaffen, läßt die Hand wieder sinken. „Einlenken – ich? Ja, was soll denn das heißen, Tante? Ich habe ihn doch nicht verlassen, er hat mich ja gehen heißen.“

„Um dir Zeit zu gewähren, den Weg zu seiner Verzeihung zu finden, Kind.“

„Aber Tante, fange doch nicht wieder damit an, ich war gerade so vergnügt.“

Du mußt das erste Wort sprechen, Edith –“

„Das muß ich nicht! Wenn ich das thue, hätte ich nett verspielt für mein künftiges Leben. Was schreibt denn eigentlich Ehren-Josepha, daß du heute so ganz besonders dringend deine Versöhnungsarie singst?“

„Du kannst den Brief ja lesen, Hier, bitte, lies ihn!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0344.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2020)