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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Obhut, sondern unter der der Erzieherin schlafen ging und – o Glück! in einem großen Bette – brachte Apollonia am leeren kleinen des Kindes weinend und betend zu.

Uebrigens blieb alles unverändert, es wurde nicht ein Sessel von der gewohnten Stelle gerückt. Herr von Kosel kam wie sonst zur bestimmten Nachmittagsstunde, setzte sich in seine Ecke und blickte in den Gruftgarten hinab. Apollonia nähte oder stickte Garnierungen für die weißen Kleider aus schwerem oder leichtem Stoff, die Elika trug.

Manchmal unterbrach sie sich in ihrer Beschäftigung und machte im stillen Betrachtungen über ihren Herrn. Die Leute lachen über ihn, weil er fast immer nachdenkt und nur selten redet. Wär’s nicht eher zum Lachen, wenn er fast immer reden und nur selten nachdenken thät?

Einmal, als er ihr besonders verträumt vorkam, bemühte sie sich, ihn zu zerstreuen, und begann von ihrer gemeinsam verlebten Kindheit und Jugend zu sprechen, und wie gescheit das gewesen war von der gottseligen Frau Mama, daß sie Apollonia noch zu rechter Zeit aus dem Hause entfernt hatte: „Ich dumme Gans hätte mich am Ende gar in Sie verliebt, gnädiger Herr, wie so viele im Schloß und im Dorf. Ja, es ist nicht anders! Am Sonntag in der Kirchen war alle Andacht weg, da haben sie sich gedrängt und gestoßen, um nur recht weit vorzukommen und Hinaufschauen zu können ins Oratorium, wo Sie waren mit der gnädigen Mama und den lieben Tanten.“

„Ach geh’, Poli!“ sagte Kosel und war doch etwas geschmeichelt. „Das bildest du dir ein. Ich habe nie etwas davon bemerkt.“

„Sie nicht! O, Sie gewiß nicht! Sie waren viel zu unschuldig dazu. Aber die gnädige Mama, die schon, und hat auch mit dem Herrn Pfarrer darüber gesprochen. Und der hat die Eltern von die Mädeln verwarnt, und die waren wütend und gar die jungen Burschen und die Männer, und ich glaub’ immer, viel von der Feindschaft der Leut’ gegen das Schloß stammt von daher.“

Mit den letzten Worten hatte Apollonia alles verdorben. Die heitere Stimmung, in die es ihr gelungen war, Kosel zu bringen, verwandelte sich in eine melancholische. Er seufzte schwer, und bange Ahnungen stiegen in ihm auf.

Wohin sollte diese Feindschaft noch führen? Durch Thätlichkeiten hatte sie sich seit längerer Zeit nicht mehr geäußert, aber sie gärte dumpf und verborgen weiter und der Schullehrer nährte sie. Fortwährend wurden Klagen beim Bezirksgericht eingereicht und waren meist lächerlich und sinnlos.

Einige Weiber, die man zum „Roßhaarzupsen“ aufgenommen hatte, schwuren hoch und heilig, daß ihnen im Amtshause vergiftetes Bier geschänkt worden war. Die Quelle, die den Teich im Schloßgarten speist und durch Bauernfelder läuft, war in neue metallne Röhren gefaßt worden. Sie erregten die größten Bedenken. Es wurden ihnen allerlei für den Boden und Getreidewuchs schädliche Eigenschaften angedichtet. Unten im Dorf hatte der Blitz eingeschlagen, weil Herr von Kosel oben auf seinem Schlosse einen Wetterableiter stehen hat – einen Ins-Dorf-Hinableiter. Dieser Hinableiter muß weg, und die Röhren müssen weg, und es wird geklagt, und weil’s in einem geht, auch gleich wegen des vergifteten Biers!

Herr von Kosel begann an den Velicern zu verzweifeln und mit dem Gedanken an eine Auswanderung nach Neusüdwales zu spielen. Seinem Sohne ging es dort gut, warum sollte es nicht ihnen allen dort gut gehen?

Nach langer Zeit hatte Joseph sich entschlossen, zu gestehen, daß er bei Levin Bornholm war. Auf der Besitzung seines Freundes, vier Tagereisen weit von Sidney. Er bat die Tanten, sich deshalb ja nicht zu beunruhigen, ja nicht zu glauben, daß Bornholm einen schlechten Einfluß auf ihn nehme. O nein! Levin sei nicht roh wie die meisten Squatter, er behandle seine Untergebenen streng aber gerecht und sorge für sie. Bornholm hatte Herden von Tausenden von Schafen und führte einen großartigen Wollhandel. Joseph genoß sein Vertrauen schon so sehr, daß ihm die Leitung einer Karawane übertragen worden war, die aus vielen mit Wollballen beladenen mit je zwanzig Ochsen bespannten Wagen bestand. Einen davon kutschierte das Weib des Ochsentreibers. Nun planten sie eine Reise mit wissenschaftlichen Zwecken, Bornholm und er, und diese Art der Wissenschaft zu dienen ließ Joseph sich gefallen.

Ach, seine Geschwister begleiteten ihn im Geiste durch die märchenhaften Wälder, durch die Riffe, die Buchten, über die Flüsse Australiens. Sie erlegten mit ihm giftige Schlangen, kultivierten Menschenfresser und kannten sich alle drei in der Geographie des fernsten Weltteils besser aus als in der ihres eigenen Vaterlandes. Herr Heideschmied, der Franz eines Abends auf die Pracht des Sternenhimmels aufmerksam machte und auf das feurige Blinken Arkturs, erhielt von ihm die Antwort:

„Was kümmert mich Ihr Sternenhimmel und Ihr Arktur, wenn ich nicht das Südliche Kreuz sehen kann!“




Elika hatte um Josephs willen noch eine schwere Stunde zu bestehen gehabt. Sie war in dem Augenblick in ihr ehemaliges Zimmer getreten, in dem Apollonia beim Aufräumen des Schrankes die erbrochene Sparbüchse gefunden hatte. An diese Sparbüchse hatte die Kleine gar nicht mehr gedacht, und eine schreckliche Ratlosigkeit ergriff sie, als die Wärterin ihr möglichst schonend mitteilte, daß alles Geld, das der gute Papa und die guten Tanten ihr geschenkt hatten, gestohlen sei.

„Nein, nein, nicht gestohlen!“ rief Elika und fuhr mit beiden Händen nach ihrem Kopf. „Poli, ich bitte dich, ich bitte dich … glaub’ nur nicht, daß es gestohlen ist …“

„Nicht gestohlen – aber fort. Wer hat’s genommen? Du selbst? Elika!“

„Ich – ich …“ Was thun? Wenn sie sagte, wem sie das Geld gegeben hatte, was mußte sie dann nicht alles sagen? Daß sie gewußt hatte um Josephs Flucht und sie hätte verhindern können, und gewiß – sollen! die Leute wecken, ihm nachsetzen, ihn einholen lassen … Nein und hundertmal nein, das sagt sie nicht – Poli kann ja nicht schweigen, die Kinder hatten es schon oft erfahren: nie ganz schweigen, höchstens halb und halb, wenn man sie „fürchterlich“ bittet. Elika fleht also und beschwört:

„Frag’ mich nicht! frag’ nicht! Ich hab’s verschenkt, mehr sag’ ich nicht, lieber sterben!“

Guter Gott, da war das Kind wieder da mit seinem Sterben! Wenn einem das Kind nur damit nicht käme, das hält man ja nicht aus. Und verschenkt also, der Engel – alles, was er hatte, verschenkt? Und will nicht einmal sagen, wem er aus der Not geholfen hat. O der gute Engel!

„Lob’ mich nicht!“ … Im Ton des tiefsten Schmerzes stieß die Kleine es hervor, und Apollonia erschrak über ihre Aufregung und suchte sie zu beschwichtigen und beteuerte, daß sie schweigen und auch nie wieder fragen werde, wohin das Geld des guten Engels gekommen sei.

In derselben Nacht aber hatte Apollonia von Joseph geträumt, war plötzlich aus dem Schlafe aufgefahren und dann lange wach gelegen. Und allerlei war ihr „vorgegangen“. Etwas höchst Merkwürdiges – und geradezu wunderbar, daß es ihr nicht früher zum Bewußtsein kam. Jetzt mit einem Mal stand es vor ihr. Damals in der Nacht, in der Joseph entfloh, hatte ein herzzerreißender Schrei Apollonia geweckt. Die Kleine stieß ihn aus: „Joseph!“ rief das Kind. Sie hatte gewußt, was geschah, eine Ahnung hatte es ihr gesagt, ein zweites Gesicht. Sie hatte den Bruder gesehen, sich aus dem Hause stehlen, in Nacht und Sturm des Weges ziehen, und ihn gerufen voll Todesangst! Und was sie gelitten hatte durch ihr unheimliches Traumleben, hatte sich am nächsten Morgen in ihren Zügen ausgesprochen; es war jedem aufgefallen. Apollonia beeilte sich, ihre spät gemachte Entdeckung der Tante Renate mitzuteilen. Diese meinte:

„Es kann auch Zufall sein; ich glaube, daß Sie nicht davon sprechen sollten.“

Aber zwei Geheimnisse auf einmal bewahren konnte Apollonia nicht, das war zuviel von ihr verlangt. Wenigstens Frau Heideschmied mußte sie sich anvertrauen, und doch auch der Frau des Kochs, mit der sie besonders innig befreundet war. Und die schwieg nicht, die erstaunliche Thatsache kam im ganzen Hause herum. Man setzte hinzu, schmückte aus, und bald war Elika von dem Nimbus einer kleinen Hellseherin umgeben.

Sie betete viel und heiß, mit exaltierter Frömmigkeit. Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0359.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2021)