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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

mit keinem Gedanken bis jetzt an den Rödershof gedacht habe, und dreht ihr den Rücken zu.

Christel merkt das kaum, sie kann sich in solche Gesinnungen nicht hineindenken. Sie giebt so gern, es ist ihr so selbstverständlich, daß die Pastorskinder eine Hilfe an ihr haben; sie giebt, weil sie geben muß, es liegt so in ihr. Daß man schon an ein „Dereinst“ denkt, an die Zeit, wo sie ihre Augen zuthun wird, das ahnt sie nicht; sie fühlt sich so jung noch und so kräftig.

An einem recht windigen Abend zu Anfang des Februar kommt Louischen mal wieder an mit einem Briefe aus Wartau. Sie korrespondiert fleißig mit der Nichte, die des Pastors Haushalt jetzt führt; sie kann sich vor Neugier nicht lassen, sie muß doch wissen, wie es in Wartau steht, wo Mohrmann geblieben ist, und ob seine Kinder noch immer bei Heines sitzen. Nun bringt sie acht Seiten voll Neuigkeiten. Sie ist gleich nach dem Essen fortgelaufen und hat eine Magd mit der Wartung ihres Kleinen und den Vater mit der Oberaufsicht über die andern betraut.

Ihr Gesicht glüht ordentlich, als sie sagt: „Nu hör’ nur mal, Christel – nein, wie ich gelaufen bin – vorhin habe ich den Brief gekriegt, konnte ihn aber erst jetzt lesen. Die Heines sind ja schon vor vier Wochen Knall und Fall fort von Wartau und wohnen in Dresden. Er, der Grobian, hat sich mit dem jungen Herrn von Salamonsky erzürnt; na, das Maul konnte er nie halten, ich habe mich schon über ihn geärgert, als er noch Inspektor bei Mohrmann war – der reine Flegel!“

Christel sitzt bei der Lampe und bessert Wäsche aus. Sie hat zuerst erschreckt aufgehorcht, jetzt fliegt ein Lächeln um ihren Mund. Woher Louischens ungünstiges Urteil über Heine stammt, weiß sie. Die hatte ihre Netze mal sehr angelegentlich nach dem tüchtigen fleißigen Mann ausgeworfen, aber der „Grobian“ verstand nicht oder wollte nicht verstehen und holte sich seine kleine freundliche Frau aus einer anderen Gegend, das Gute, das so nahe lag, verschmähend.

Louischen hat vielleicht dieses flüchtige Lächeln gesehen und verstanden, denn sie zerrt mehrere Briefblätter so hastig und ärgerlich aus dem Umschlag, daß sie zerreißen, und sucht nach den Zeilen, die Heine an den Pastor richtet. „Na, von vorn brauche ich ja den ganzen Salm nicht zu lesen,“ beginnt sie, „das Interessante für dich kommt erst auf der zweiten Seite, hör’ bloß mal:

,– – Wir haben uns ja, wie oben gesagt, vorläufig hier eine kleine Wohnung gemietet, in der Vorstadt Striesen, und ich hoffe bestimmt, in nicht allzulanger Zeit wieder eine Thätigkeit zu finden. Meiner Frau macht die Pflege der Kinder ja auch viel Freude, aber – – Und nun kommt eine bange Frage, verehrter Herr Pastor –: hierorts herrscht augenblicklich eine heftige Scharlachepidemie, die schon manches Opfer gefordert hat unter den Kleinen. Seit drei Tagen ist der böse Gast auch in unser Haus eingekehrt; über uns im vierten Stock und drunten im Souterrain sind Kinder erkrankt an der unheimlichen Seuche, und manche haben sogar noch Diphtherie dabei. Meine Frau und ich, wir wissen vor Angst um unsere anvertrauten drei nicht was thun, und ich habe schon Mitteilung gemacht an die beiden alten Fräulein von Wartau, erhielt auch von Fräulein Josepha ein paar mit zitternder Hand geschriebene Zeilen des Inhalts, daß sie weiter nichts thun könne, als Gott zu bitten, die Kinder zu beschützen. Ihre arme Schwester habe – wohl vor Kummer und Herzeleid – vor kurzem ein schweres Nervenleiden bekommen, so, daß sie fast ganz gelähmt sei, und sie, Fräulein Josepha, wäre ebenfalls so schwach, daß sie nur mit Not und Mühe die Pflege der Kranken versehen könne. Eine andere Zuflucht für die Kleinen wisse sie nicht, denn Frau von Lattwitz sei ihrem nach Metz versetzten Gatten gefolgt, und wer solle die Kinder so weit hinbringen? Endlich, die Gräfin Altwitz sei in diesem Winter zu kränklich, so daß man nicht daran denken könne, sie mit den Kindern zu belästigen –

Nun dachten wir in unserer Angst, ob Sie, Herr Pastor, nicht aus christlicher Barmherzigkeit die Würmer eine Zeit lang hinnehmen möchten, bis wir über diese Epidemie hinaus sind? –“

Louischen hat das letzte mit erhobener Stimme gelesen. „Wie findest du das bloß?“ fragt sie, sich unterbrechend, „da soll Robert, oder vielmehr Klärchen, sich mit den Kindern des Mannes befassen, der solchen Jammer über dich und uns alle gebracht, der dich fortgejagt hat!“

„Das that er nicht!“ sagt Christel eigentümlich gepreßt, „ich bin von ihm gegangen.“

„Na, klaube nur nicht an dem Wort herum,“ antwortet Frau Louise scharf, „am Arm hat er dich freilich nicht genommen und dich über die Schwelle gestoßen, er hat dich aber moralisch ’nausgeworfen, und das ist nun mal ganz dasselbe.“

Christel schweigt, aber auf ihrem Gesichte wechseln Röte und Blässe, sie ist kaum fähig, weiter zu hören.

„So, nun kann ich aber das weitere sparen, das sind nur noch ein paar höfliche Redensarten, Komplimente und Bitten, um Robert einzufangen,“ setzt Louischen hinzu. „Ich will jetzt gleich mal die betreffende Stelle in Klärchens Briefe suchen, die von Roberts Antwort an Heine berichtet. Also höre:

‚Vater hätt’s mir gewiß gern erlaubt,‘ schreibt das junge Mädchen, ‚die Kinder für einige Zeit in Pflege zu nehmen, aber unsere Jüngsten sind gar nicht munter, und außerdem wurden in Wartau auch mehrere Diphtheritisfälle gemeldet. Sonst wäre der gute Vater gern bereit gewesen, das Liebeswerk zu thun – –‘“

Hier bricht die Vorlesende ab und sagt: „Na, das mußte er ja nun versichern, so’n paar Redensarten vom guten Werke, von christlicher Liebe, das gehört sich für einen Pastor; ich freue mich nur, daß Robert nicht darauf hereingefallen ist. Eine zu harmlose Idee von Heine! Mich wundert es aber doch, daß er sich nicht auch an dich gewendet hat.“

Christel schweigt und starrt an der Schwester vorüber, auf ihrem Gesicht liegt jetzt ein eigenes Leuchten. „Entschuldige einen Augenblick,“ bittet sie nach einem Weilchen, indem sie aufsteht. Sie geht zur Stubenthür, öffnet diese und ruft nach dem Knecht. Louischen hört den schweren Tritt des Mannes über die Steinfliesen der Flur kommen, und dann die Stimme Christels: „Karl, die Braunen vor den Kutschwagen; in einer halben Stunde fahren Sie mich nach der Station! Der Zug geht doch um neun Uhr nach Dresden?“

„Jawoll, um neun Uhr, Frau.“

„Na, dann sputen Sie sich, Karl!“

„Jawoll, Frau!“

Christel kommt zurück und geht an ihrer Schwester vorüber, ohne sie zu beachten, ins Schlafzimmer, dann kehrt sie zurück, öffnet den Schreibtisch, nimmt Geld heraus und verschließt den Schlüsselkorb. „Sei nicht böse, Louischen,“ sagt sie, „ich mach’ mich nur zurecht, ich reise.“

Frau Wendlandt ist aufgestanden und in ihrem scharf geschnittenen Gesicht spiegeln sich Erstaunen und heller Zorn über die Anstalten ihrer Schwester. „Du wärst, weiß Gott, so albern und holst dir die Wärgels,“ sagt sie auf gut Sächsisch.

„Hast du etwas dagegen einzuwenden?“ fragt Christel ruhig.

„Nun, ich dächte doch! Wenn du das nicht selber fühlst – –“

„Wir fühlen beide sehr verschieden,“ meint Christel und stellt ihren Fußsack auf die Ofenbank, damit er etwas anwärmt.

„Ja, das kann sein – ein bissel mehr Stolz habe ich denn doch als du.“

„In diesem Falle habe ich keinen Stolz, fände es auch unrecht, wenn ich ihn hätte.“

„Du willst gewiß die Epidemie in Bärenwalde einschleppen? Na adje – fürs erste sind wir geschiedene Leute, ich setze meine Kinder nicht der Gefahr aus, sich hier den Tod zu holen.“

„Das kann ich dir gar nicht verdenken, Louise; leb’ wohl!“

Christel hängt sich den mit Hamster gefütterten einfachen Pelzmantel um, und als das Mädchen hereinkommt, beginnt sie diesem einige Aufträge zu erteilen. „Die Gaststube oben soll tüchtig geheizt werden, und morgen gegen mittag werde ich wieder hier sein, wahrscheinlich nicht allein.“ Und ob Marie auch klagen werde über ein wenig mehr Arbeit?

„Aber warum denn, Frau? Ich thu’s gern.“

Christels Gesicht ist so verändert, so getaucht in freudige Erwartung, daß das Mädchen sie ganz erstaunt ansieht, während Louischen, mit spöttischem Lächeln, die Hände unter die Schürze gesteckt, noch dasteht. „Man erlebt Wunder und Zeichen,“ sagt sie, „wenn Mutter das wüßte, im Grabe drehte sie sich um.“

Christel antwortet nicht, sie hat’s gar nicht gehört: Louischens Gehässigkeiten rauschen so an ihr vorüber, sie kennt sie und achtet nicht mehr darauf. Karl knallt draußen mit der Peitsche, zum Zeichen, daß er vorgefahren ist. Christel will ihrer Schwester

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0374.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2021)