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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (Schluß.)

Aus der Pforte des Krankenhauses in dem halbpolnischen Städtchen tritt ein großer Mann, dessen blonder, leicht mit Weiß gemischter Vollbart ein gelblichblasses Gesicht umrahmt, ein Gesicht, das mit seinen tiefliegenden Augen und dem müden Ausdruck von schwerer, eben überwundener Krankheit erzählt. Er stützt sich fest auf seinen Stock, als er die Stufen herunterschreitet, wendet sich dann noch einmal um und nickt einem Manne zu, dem Krankenwärter, der ihn gepflegt hat während dreier Monate.

„Sehen Sie, es geht ganz gut, lieber Kramer; ich bin wieder gesund; Sie brauchen mich nicht zu begleiten, ich muß mich gewöhnen an das Alleingehen. Und nochmals vielen Dank!“

„Adjes, Herr Mohrmann! Alles Glück, und kommen Sie gut heim!“

Anton Mohrmann geht die Straße entlang dem Gasthof zu, wohin er seine Sachen hat schicken lassen, und wo für ihn ein Zimmer bestellt ist. Er erwartet Heine, den er gebeten hat, ihn zu besuchen.

Kommen Sie gut heim! wiederholt er bitter – heim! – Heimatloser ist er als der Sperling, der auf dem festgestampften Schnee des Fahrwegs hüpft, um Nahrung zu suchen; der hat doch ein Nest! Ja, was wird er nun beginnen? – Er will Heine bitten, ein paar Wochen gegen mäßige Pension bei ihm bleiben zu dürfen, denn er fühlt sich noch immer sehr schwach, und vom Krankenhaus aus ist’s ihm nicht gelungen, eine neue Stellung zu gewinnen, Scorodowo aber ist besetzt. Der Herr hat auf ihn nicht warten können, hat bald einen Inspektor hingeschickt, der mit Flüchen und Prügeln bei der Hand ist, der die polnischen Mägde aus dem Hause wirft und mit der Wirtschafterin um so besser steht, kurz, einen, der dahin paßt.

An jenem Tage, als Heine zu ihm kam, ist Anton krank geworden. Er erinnert sich nur noch undeutlich, daß man ihn spät abends aus seinem Bette in den Wagen trug, daß er noch hörte, wie der Arzt von „Typhus“ sprach, und dann hatte er wochenlang die Besinnung verloren. Hinterher sollte das Gesundwerden kommen, und das wollte erst nicht gelingen; er bildete sich in seiner Mattigkeit, seiner Kraftlosigkeit ein, er werde dennoch sterben, obgleich der Arzt ihm versicherte, daß die Gefahr vorüber sei. Er empfand bei diesen Todesgedanken etwas wie Glück; es war so still um ihn, so friedlich, er hatte auf Erden nichts mehr zu suchen, und – seine Kinder – – seine Kinder sind ja bei Christel! – – Welche Ruhe sich über ihn ausbreitet bei diesem Gedanken an Christels Liebeswerk, so eine süße wohlige Ruhe! Erst mit den wiederkehrenden Kräften kommt das Bewußtsein über ihn, daß er noch Pflichten hat, und damit die alte Sorge, der alte Zweifel, die alte Niedergeschlagenheit.

Er braucht nicht betteln zu gehen in der nächsten Zeit, nein, das nicht. Er hat vor kurzem aus dem beendigten Konkurs noch den Rest seines einstigen Vermögens, einen kleinen Bruchteil desselben, ausgezahlt erhalten, dreitausend Thaler. Es ist nicht viel. Aber doch etwas, um mit Ruhe suchen zu können nach einer Stellung, um nicht in der Verzweiflung zugreifen zu müssen nach jedem Strohhalm, um der Frau, die selbst um ihr täglich Brot ringt, seine Kinder, die Last, die sie sich in ihrer endlosen Herzensgüte, ihrem Mitleid selbst aufgebürdet, wieder abnehmen zu können. Er will Heine bitten, die Kinder zu holen und ihnen ein Heim, ein vorläufiges Heim zu gewähren.

Wie gern hätte er Christel selbst gedankt für ihre Güte, aber das kann er nicht, das nicht! Er will sie nicht wiedersehen, will sich nicht kaltfreundlich von ihr anschauen oder gar abweisen lassen; Heine muß seinen Dank mitnehmen.

Es geht mit den müden Füßen noch nicht so recht vorwärts, murmelt Anton und wandert über die Straße dem „Schwarzen Adler“ zu, dem einzigen Gasthof des Städtchens. Er hat deutsche Kellner, aber einen polnischen Wirt, einen Wirt, der aussieht wie ein Graf, die elegantesten Manieren besitzt und ausgezeichnet selber kocht. Den herkömmlichen Schmutz abgerechnet, ist dies Hotel eine Perle unter seinesgleichen.

Der Krankenwärter ist tags vorher dort gewesen und hat ein geheiztes Zimmer nach vorn heraus bestellt. Der kurze Dezembertag neigt sich seinem Ende zu und doch ist es kaum drei Uhr. Ein Kellner begleitet Anton in sein Zimmer, schürt im Ofen das Feuer, schreibt seinen Namen auf und geht, als der Gast auf Weiteres vorläufig verzichtet, hinaus; und nun sitzt Anton da, allein im fremden Hause, den Kopf auf die Sofalehne gestützt, und wartet. Auf was? Er weiß es eigentlich selber nicht, er hat auf nichts zu warten mehr – – Ja so, auf Heine, Heine muß ja kommen.

Draußen stiebt ein feiner scharfer Schnee in der Luft. Ueber die Mauer des benachbarten Grundstückes ragen schneebedeckte Aeste, auch eine Tanne ist dabei, auf deren dunklem Grün es flimmert und glitzert. Von diesem Bilde ist’s nur ein Sprung zum Weihnachtsbaum und zu den Kindern, und neben den Kindern steht Christel, immer Christel!

Aber das hat er sich verscherzt, das Glück, das große, große Glück! – –

Der Kellner tritt nach kurzem Anklopfen wieder ein und bringt einen Brief. Anton nimmt ihn halb zerstreut und hält ihn ein ganzes Weilchen in der Hand; endlich tritt er nahe ans Fenster und erkennt den Poststempel von Heines jetzigem Wohnsitze. Ein Schreck durchzuckt ihn, es ist nicht seine Handschrift, und als er nun den Brief entfaltet, schreibt richtig die kleine Frau Heine, daß ihr Mann nicht kommen könne, daß auch er erkrankt sei, und zwar an einer Lungenentzündung, und daß sie den ihr und ihrem Manne so werten Gast jetzt leider nicht aufzunehmen vermögen, so schwer es ihnen auch werde, auf diese Freude verzichten zu müssen.

Anton geht auf seinen Platz und fragt sich wieder einmal: Was nun? – Wohin? Und plötzlich packt ihn eine so starke, alle Bedenken überwältigende heiße Sehnsucht nach dem einzigen Menschen, der ihn verstanden hat, nach dem einzigen Herzen, das ihm Liebe und Treue bewahrte, daß er jäh aufspringt und in der Stube hin und her wandert.

Heim! Heim – wie der verlorene Sohn! Nur noch einmal ihre Stimme hören, noch einmal in dies freundliche blaue Auge sehen und dann, wenn sie ihn wegweist – schlimmer kann’s ja auch nicht werden – dann will er die Kinder nehmen und – im Notfalle nach Amerika mit ihnen!

Heim! Ein anderes Heim als das an ihrer Seite hat er ja nie besessen! Das schlichte treue Nebeneinander mit ihr ist das einzige wahre Glück gewesen, das er je gekannt, alles andere war Schein, Lüge, Erbärmlichkeit! Er will ihr das sagen, alles sagen, was er erduldet und erlitten, sie muß ihn hören!

Er langt den Ueberrock vom Nagel, nimmt Hut und Stock und beauftragt den Hausknecht, ihm den Koffer nach dem Bahnhof zu bringen. Dann bezahlt er den Wirt und macht sich auf den Weg. Der Zug gehe erst in einer Stunde, hat der Mann ihm gesagt.

Desto bester, er kann ja nur langsam gehen. Und indem er dahinwandert, fühlt er den eisigen Wind nicht, und nicht den Schnee, der ihm entgegenfliegt und Hut und Ueberzieher mit glitzernden Krystallen bedeckt. Er sagt nur immer wieder das eine Wort „Heim“!

Schlafen kann er nicht in dem sausenden, rüttelnden Wagen des Schnellzuges. In Berlin muß er nach einem andern Bahnhof fahren; er sieht die hastenden, jagenden Menschen auf der Straße im Nebel des kalten Wintermorgens, an dem um neun Uhr die Laternen noch brennen, wie im Traum. Er vergißt Essen und Trinken auf dem Anhalter Bahnhof und atmet erst auf, als er im Zuge nach Dresden sitzt. Und dann ist er auch dort angekommen. Er nimmt in aller Eile eine Tasse Kaffee und löst ein Billet nach dem Städtchen, das Christels Station ist; Heine hatte ihm alles ausführlich schreiben müssen, als er wieder in der Besserung war.

Wie hat er sich in den langen, einsamen Stunden der Rekonvalescenz den Ort ausgemalt, in dem sie und seine Kinder weilen!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0439.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2024)