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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Adieu!“ rief sie hinaus, dem kleinen schwarzen Punkte nach, der jetzt noch einmal auf der steilen Anhöhe der Bahnhofsstation zum Vorschein kam. Nie, niemals wird sie vergessen, wie ihr zu Mute war, als sie den kleinen schwarzen Punkt nicht mehr sehen konnte. Kein Ereignis des späteren Lebens, kein Schmerz, kein Glück wird den Eindruck je verwischen, den sie damals empfing. O, welch ein Herz voll Liebe fuhr ihr davon über die Berge!




Die Gedanken der beiden Tanten waren einmal wieder mit einer und derselben Sache beschäftigt. Sie lag, sozusagen, auf der Hand und gehörte zur großen Familie des Selbstredenden, das früher oder später zu Worte kommt, dem aber eine kleine diskrete Nachhilfe manchmal auch nicht schadet. Dieses Selbstredende war, daß Felix und Luise ein Ehepaar werden müßten. Er sollte nicht für den Rest seines Lebens ein Witwer bleiben, und Luise, die zum Ebenbild der evangelischen Hausfrau geschaffen war, sollte nicht ein altes Mädchen werden. In Felix durften ähnliche Erwägungen wohl schon aufgedämmert sein, und mehr als einmal hatte er angefangen, seiner anmutigen Verwandten den Hof zu machen. In seiner Art natürlich. Geschmachtet oder gestürmt hatte er nicht, sondern immer nur plötzlich entdeckt, daß es sich gehöre, Luise oft zu besuchen und sich ihr in ihrer kleinen Oekonomie nützlich zu machen. Das letztere vergaß er aber regelmäßig und auch das erste nur zu bald, und so geriet die Angelegenheit immer wieder ins Stocken.

Einige Monate nach der Abreise Bornholms trat – ohne Zweifel infolge einer kleinen diskreten Nachhilfe – ein neuer Aufschwung ein.

Luise hatte die leise Schwermut überwunden, von der sie eine Zeit lang befangen gewesen. Im Hause Kosel wurde Levin in ihrer Gegenwart nie mehr genannt, und auch sie erwähnte seiner nicht. Trotzdem waren die Tanten überzeugt, daß sie ihn in Erinnerung bewahre und wahrscheinlich immer bewahren werde. Er wird für sie das Interessante, das Exotische bleiben, der ungewöhnliche Mensch, in den man sich allenfalls verlieben kann, den man aber nicht heiratet.

„Das Gegenteil von Felix,“ fiel Charlotte in diese Worte ihrer Schwester ein, und Renate versetzte:

„So ist es.“

Sie feierten beide in aller Demut stille Triumphe, wenn sie ihren Neffen jetzt täglich um zehn Uhr vormittags in jedem Wetter aufs Pferd steigen und Vrobekwärts traben sahen.

Es vergingen wieder ein paar Monate und Renate sprach zu Charlotte: „Hast du bemerkt, bestes Herz, wie liebreich er sie gestern angeschaut hat?“

„Darauf,“ erwiderte Charlotte, „ist kein großer Wert zu legen. Er schaut auch mich liebreich an, wenn er gerad’ an eine Zeitung oder an eine Papiermühle denkt. Er hat einmal eine so liebreiche Zerstreutheit. Und gestern, ich muß es dir doch sagen, hat die arme Luise mir gestanden, daß er ihr mit seinen langen Vormittagsvisiten mehr Zeit raubt als er verantworten kann, und dabei eine Portion Langweile produciert, die alle Begriffe übersteigt.“

Renate fühlte sich ein wenig verletzt: „Amüsant ist er freilich nicht; aber geliebtes Herz, wer heiratet denn, um sich zu amüsieren? Das ist doch nicht der Zweck der Ehe. Uebrigens werde ich noch heute mit ihm sprechen.“

Sie that es, und das wurde der denkwürdige Tag, an dem Felix seine Cousine Luise fragte, ob sie seine Frau werden wolle: „Die Tanten meinen,“ setzte er hinzu, und seine rosenroten Wangen bekamen einen Stich ins purpurfarbige, „daß du die beste Frau für mich sein wirst.“

Luise sah ihn freundlich und gelassen an und reichte ihm beide Hände. Er ergriff sie nicht, er legte nur die kühlen, schlanken Finger seiner Rechten in diese kleinen, feinen Hände, und seine Züge hatten den Ausdruck schüchterner Verwunderung, den sie so oft annahmen. Luise hielt seine Finger fest und streichelte sie:

„Lieber Felix, sind wir nicht gute Freunde von Jugend auf und ist das nicht etwas Vortreffliches? Soll man am Vortrefflichen etwas ändern wollen?“

Er fand nicht gleich eine Antwort. Nach einer Pause erst kamen die zögernd gesprochenen Worte: „Gute Freunde können wir ja bleiben, auch wenn wir heiraten … und die Tanten meinen, du wärst die beste Frau für mich.“

„Ich meine das nicht,“ erwiderte sie, „und du selbst … Die beste Frau, die es für dich geben konnte, hast du verloren, mein armer Felix.“

Er zuckte zusammen und atmete tief auf: „Die hab’ ich verloren, ja!“ und nun war er’s, der ihre Hand ergriff und herzlich drückte. „Die hab’ ich verloren,“ wiederholte er, erhob sich und ging wie im Traum der Thür zu. Dort blieb er stehen, wendete den Kopf und sprach: „Sag’ du das auch den Tanten.“

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Der angekündigte Reisebericht Josephs traf in Velice zugleich mit einem Briefe von ihm für Luise ein. Elika schickte ihn und kam ein paar Stunden später selbst nach Vrobek. Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten. Sie hielt Luisen die mit Josephs ungelenker Steilschrift bekritzelten Blätter entgegen:

„Lies! was für ein Mensch das ist! O, die Strapazen, die er ausgehalten, die Gefahren, die er bestanden hat. Und wie er das erzählt, als ob es gar nichts wäre und als ob jeder andre es auch könnte. Lies, und gieb zu lesen! Wo ist sein Brief an dich? darf ich um ihn bitten?“

Luise war rot geworden, zögerte einen Augenblick, griff dann entschlossen in die Tasche und reichte ihr das Schreiben hin: „Lies laut,“ sagte sie, „es ist mir lieber,“ und Elika las:

„Du sollst wissen, meine liebste Tante Luise, daß ich mich ganz umsonst auf die Rückkehr meines Freundes Levin gefreut habe. Es ist bloß die Hälfte von ihm zurückgekommen und nicht die bessere – nur sein Futteral. Dieses reitet täglich drei Pferde müd’, inspiziert Wollstationen, ißt, trinkt, schläft gewohnheitsmäßig, die Maschine funktioniert. Anwandlungen von Schlottrigkeit stellen sich freilich ein, wie natürlich bei einem Wesen ohne Seele, ohne höhere Interessen. Alles, was die ausmacht, hat Levin unterweges irgendwo sitzen lassen.“

Nun folgte eine Dithyrambe auf Australia felix und ein besonders begeisterter Hymnus auf Neusüdwales, auf die Felsenthore und Buchten seiner Küsten, auf seine zauberhaften Waldlandschaften, auf die Wunder der blauen Berge und die unerschöpflichen, erhabenen und lieblichen Schönheiten des Murraythals. Das Klima Südfrankreichs im Sommer und das Kairos im Winter …

„Kein treues Bild,“ sagte Elika, „ein Bild ohne Schatten, und wie dunkle und furchtbare giebt es dort!“

Luise nickte. „Gewiß, die übergeht er mit Schweigen,“ sagte sie. Ihr Blick ruhte gespannt auf den beweglichen Zügen Elikas, deren Stimme immer leiser wurde, während sie fortfuhr:

„Und in einer solchen Natur, einer so paradiesischen Welt geliebt und vergöttert werden, müßte doch noch viel schöner sein, als sich zum Beispiel in Vrobek anbeten zu lassen. Wem dieses Los beschieden sein könnte, weißt du, Tante Luise. Du könntest einen Menschen, der zu allem Guten und Tüchtigen angelegt gewesen ist, den aber das Leben aus der Bahn gestoßen hat, und der sich in der Irre sehr unglücklich fühlt, wieder ins Geleis bringen. Ueberleg’, ob du, was du thun könntest, nicht thun solltest, liebe Tante Luise. Ich gebe meinen Segen dazu, und das ist schön von mir.“

Elika hatte ihre Hand mit dem Briefe auf ihren Schoß sinken lassen und starrte auf das Blatt nieder. „Es ist schön, daß er so fertig mit sich geworden ist, schön und männlich,“ sprach sie tonlos, und nach einer Weile, ohne die Augen zu erheben: „Wirst du diesen Brief den Tanten zeigen?“

„Ja.“

„Und wirst du ihn beantworten? Und wann? … Und was wirst du antworten?“

„Ich weiß es nicht, glaube mir, daß ich es nicht weiß.“

„Wenn du aber schreibst, wirst du mir dann sagen, was du geschrieben hast?“ fragte Elika nach einer abermaligen langen Pause.

„Ich werde es dir sagen, Kind, ich verspreche es dir,“ bekräftigte sie und sah der Kleinen liebevoll beschwichtigend in die zweifelnd und bang auf sie gerichteten Augen.

Eine halbe Stunde später fuhren sie zusammen nach Velice in dem hübschen kleinen Kutschierwagen, den Leopold vor seiner Abreise der Tante verehrt hatte. Hansl war von allem Anfang

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0478.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)