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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Man hatte Elika anfangs über die Gefahr getäuscht, in der ihr Bruder schwebte; es war leicht gewesen, der Gedanke, daß dieser starke, blühende Mensch vor ihr sterben könne, wäre ihr nie gekommen. Sie hätte ihn, von anderen ausgesprochen, zurückgewiesen wie etwas Unsinniges und Unfaßbares. Am dritten Morgen aber, als Franz immer gleich ruhig dalag und doch nicht schlief, und sie eine Weile an seinem Bette gestanden hatte, ohne zu wagen, ihn anzusprechen, wurde sie von einer unbestimmten, furchtbaren Bangigkeit ergriffen. Apollonia trat unhörbar heran auf weichen Schuhen und wechselte den feuchten Umschlag auf der Brust des Kranken. Da öffnete er die Augen und erhob sie zu ihr und zu Elika, aber ganz fremd, wie fragend und suchend.

„Franz, Lieber,“ sprach Elika, „siehst du mich?“

„Ja,“ antwortete er, „wenn der Schleier, den ich von den Augen habe, sich verschiebt, dann seh’ ich dich.“

„Warum hast du einen Schleier vor den Augen, lieber, lieber Franz?“ Sie ließ sich auf die Kniee gleiten, küßte seine Hand, die auf der Decke lag, nahm sie in die ihre und bedauerte sie. „Arme Hand, wie du aussiehst, ganz zerschunden von Ziegeln und Steinen. Ich will sie pflegen. Gieb sie mir, Franz.“

Er antwortete nicht und als sie nun erschrocken emporblickte, sah sie, daß Tante Renate ganz leise eingetreten war, traurig mit den Achseln zuckte und einen Finger auf den Mund legte. Und Elika begriff plötzlich etwas Entsetzliches, etwas, das ihr das Herz zerriß, diese Hand, diese gute, rettende, großmütige Hand, konnte die ihre nicht ergreifen, sich nie mehr liebkosend auf ihren Scheitel legen, sie war gelähmt.

Ueberwältigt sank Elika zusammen und brach in einen Strom von Thränen aus. Apollonia faßte sie sanft unter den Armen, hob sie auf, führte sie aus dem Zimmer und wollte sie in das ihre bringen. Auf dem Gang aber traten ihnen Kosel und Leopold entgegen. Elika schrie auf: „Du!“ und flog dem Heimgekehrten in die Arme. Für so lange hatte sie von ihm Abschied genommen und wie kurz war die Trennung gewesen, und welcher neuen, grauenvollen war sie vorangegangen!

Leopold, ganz blaß und starr, mit roten geschwollenen Lidern, küßte sie und sagte einmal ums andere: „Arme Kleine, arme Kleine!“

„Papa hat dich gerufen, weil Franz sterben muß,“ schluchzte sie, „sag’s nur, sag’s nur!“

Leopold gab keine Antwort und Kosel wiederholte die tröstenden Worte, mit denen der Doktor, den man aus Wien hatte kommen lassen, sich gestern empfohlen:

„So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“

Dreimal vierundzwanzig Stunden und jede Stunde eine Ewigkeit voll Leid, und die Erinnerung daran den Herzen, die es tief und voll empfunden haben, unauslöschlich eingeprägt. Ein trübender Schatten für die Jungen, eine klaffende Wunde für die Alten, für die armen Tanten, denen ihr Dasein jetzt beinahe wie ein Unrecht erscheint. Was haben sie noch „da zu sein“, die welken dürren Zweige, wo die Blüte in Glanz und Schönheit vom Baume fällt?

Sie ruhten und rasteten nicht, sie wachten jede Nacht, sie machten sich zu Handlangern der Handlanger. Wenn Franz im Halbschlaf einmal flüsterte: „Die Tanten, die guten Tanten“, ergriff sie eine überschwengliche Dankbarkeit, aber unnötig oder mindestens entbehrlich kamen sie sich doch vor.

Kosel irrte wie verloren umher und sagte jedem, der ihm begegnete, ohne Ahnung, wen er vor sich hatte: „So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“

Immer wieder wurde Elika aus dem Sterbezimmer gebracht und kehrte immer wieder dahin zurück. Sie war überzeugt, daß Franz noch zu ihr sprechen werde, und wartete darauf angstvoll und sehnsüchtig. Einmal nannte er einen Namen, den sie nicht verstand, und sie flüsterte: „Rufst du mich, Franz? Hast du mich gerufen?“

Er sah sie groß an und schwieg.

„Den Papa? den Leopold? Tante Renate, Charlotte?“

„Hanusch,“ sagte er.

Hanusch wurde geholt. Man hatte lange nach ihm suchen müssen; er verkroch und verbarg sich scheu wie ein verwundetes Tier. – Um seinetwillen starb sein Herr, der ihm das Höchste war, er, für den er sich in Stücke hätte hauen lassen, starb um seinetwillen … Nein, er konnte ihn nicht sehen, er konnte nicht vor ihn hintreten. Er wollte liegen bleiben, wo er lag, in seinem Winkel, und auch sterben, wenn sein Herr starb. Mit größter Mühe bewog der Pfarrer ihn endlich, ihm zu folgen.

Als Franz ihn erblickte, erheiterten sich seine Züge, mit einem Lächeln grüßte der Sterbende den durch ihn, durch seine Kraft dem Leben Erhaltenen, und im letzten Kampf stählte ihn das Bewußtsein eines Sieges.

Es war am Morgen seines Sterbetages. Der Arzt hatte ihn hoch gebettet, er saß fast aufrecht, den Kopf zurückgeworfen, Elika stand bei ihm und wischte ihm mit ihrem Tuche den Schweiß von der Stirn.

„Bist du da, Kleine?“ fragte er.

Sie glitt leise mit der Wange über seine Haare: „Ich bin da, ich bin bei dir.“

Da öffnete er die Augen und hob den Blick fest und inständig zu ihr hinauf. Seine Stimme hatte fast keinen Ton, aber Elika verstand jedes Wort, das er sagte; es war das völlig Unerwartete. „Wir haben den Papa zu wenig lieb gehabt. Er ist gut, viel besser, als wir gewußt haben. Habt ihn lieb, du, Leopold und Joseph.“ Er schöpfte tief Atem, seine schweren Lider senkten sich: „Joseph … daß ich den nicht mehr seh’, ist doch schad’ …“

O die entsetzlichen Stunden, die noch nachkamen … das grausame, unentrinnbare Leiden … O die traurigen verstörten Menschen! … die ratlose Bestürzung im Hause, aus dem ein vielgeliebtes Kind sich anschickte, zu scheiden.

Ehe die Sonne im Scheitel stand, war es vorbei, und Elika hatte ein Sterben, hatte das schauerliche Wunder, mit dem ihre Phantasie gespielt vom ersten Erwachen an, sich in seiner ganzen Furchtbarkeit vollziehen gesehen.

Da lag er nun, der junge Held, niedergestreckt von der Hand Gottes, und trug noch den trotzigen Ausdruck im wachsbleichen Gesicht, den sie so sehr geliebt und hinter dem eine unerschöpfliche Güte sich verbarg. Er hatte gelitten und nicht geklagt, nie ein Zeichen des Bedauerns in Anspruch genommen, er hatte das Mitleid verschmäht.

„Mein Franz, mein Franz,“ flüsterte Elika. Die anderen waren gegangen, Vorbereitungen treffen zu all dem Herzzerreißenden, das noch durchgemacht werden mußte. Sie glaubte sich allein mit ihm und sprach zu ihm, als ob er noch lebte, und dankte ihm, als ob er sie hören könnte, für alle seine Nachsicht, Geduld und Liebe … Da plötzlich vernahm sie ein gewaltsam hervorbrechendes Schluchzen und wendete sich. Im Fauteuil neben der Thür saß ihr Vater, den Kopf auf die Brust gesenkt, und weinte. Ihr Vater, in dessen Augen sie nie eine Thräne gesehen hatte, weinte und schluchzte …

Ganz langsam und schüchtern trat sie auf ihn zu und kniete bei ihm nieder. Wie einst als kleines Kind stützte sie die Arme auf sein Knie und wußte wieder nichts anderes zu sagen als: „Armer Papa!“

Er richtete einen trüben, traurigen Blick auf sie. „Willst auch du von mir fortgehen? Hab’ ich lauter treulose Kinder?“ fragte er.

Elika sprang auf und umklammerte seinen Hals: „Nein! Ich will bei dir bleiben und dich lieb haben und dein treues Kind sein.“

Mit einem zitternden Aufschrei streckte er die Arme aus und hob sie auf seinen Schoß, und schloß sie an sein Herz und hielt sie lange an seine Brust gepreßt, und legte sanft seine Hand über ihre brennenden Augen. Die seinen blieben unverwandt auf den Toten geheftet. „Ja, Elika, ja, Kleine,“ sagte er, „wenn sie jetzt da wäre, deine Mutter, und müßte das sehen. Gut für sie, daß sie nicht da ist … gut für sie.“

Aber nicht für ihn; sie wäre ja sein Trost gewesen.

Elika zog seine Hand an ihre Lippen: „Armer Papa“. Jawohl, sie hatten ihn zu einsam dahinleben lassen und ihn zu wenig lieb gehabt, der so vieler Liebe fähig war.

(Schluß folgt.)




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