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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

gesagt: „Ach Väterchen, wenn ihr doch mitkommen könntet.“ Und er hatte, während ihm die Thränen über die runden, roten Backen liefen, lachend erwidert: „Na, Anni! Das würde wohl deinem Manne nicht passen! Er hat schon schlechte Witze gemacht über das viele Gepäck, das du mitnähmest. Also vergiß nicht, die Boa ist in der Reisetasche – in Hamburg ist immer Wind, und wenn ihr nach dem Hotel fahrt, nimmt er sicher eine offene Droschke! Ich kenne ihn! Er schläft ja bei offenem Fenster, und gestern wurde es schon um fünf Uhr recht kalt.“

Ob sie wohl an die Boa denken würde?

Was hatte er nun davon, daß er sich dreißig Jahre im Geschäft abgerackert und sich vor fünf Jahren als Rentier hatte zurückziehen können? Was sollte er mit den langen Tagen anfangen? Und nun gar erst abends?

Zuweilen sang Anni am Klavier einige hübsche Lieder, doch meistens las sie den Eltern vor mit ihrer weichen reinen Altstimme, und er saß gemächlich mit der Cigarre im Lehnstuhl und nickte so gegen zehn Uhr etwas ein.

Wie lang und einsam würden die Abende jetzt werden! Vielleicht war es besser, wenn er eine kleine Reise machte, möglichst bald, ehe das Wetter schlecht wurde!

Ruhelos wanderte er weiter, steckte in jedes Zimmer den Kopf, nur in Annis kleinen Wohnraum nicht, obgleich er schon die Klinke in der Hand hatte. Nein, er wollte doch lieber spazieren gehn – man mußte sich gleich daran gewöhnen, allein zu sein! Bald schritt er die Straße hinab, bis er den Stadtpark erreichte. Nur vereinzelte Spaziergänger begegneten ihm. Er setzte sich auf eine Bank und blickte über den grünen Rasen zum fernen Walde hinüber, der in rotgoldenem Herbstschmuck vor den dunklen Tannen im Hintergrunde stand. Ueber ihm zippte ein Zeisig im Geäst der Birke, von der hellgelbe Herbstblätter müde herabflatterten. Sie fielen dem alten Herrn auf die Hutkrempe und auf die Kniee; er zerrieb einige zwischen Daumen und Zeigefinger und weinte dabei leise vor sich hin.

Langsam kam die Dämmerung herangezogen. Ein junges Menschenpaar schritt an ihm vorüber und flüsterte zärtliche Worte miteinander, ohne den einsamen Alten zu bemerken; hinter ihnen raschelte das gefallene Laub.

Er schaute ihnen nach und sah, wie sie sich an der nächsten Wegbiegung küßten. Da stand er rasch auf und ging nach Hause.

Mutter Christine mußte seit Jahren zum erstenmal den Thee wieder selbst bereiten und fragte ganz geistesabwesend: „Nimmst du Zucker oder nicht?“

Er schüttelte nur den Kopf, und sie gab ihm keinen Zucker. Anni hatte nie danach gefragt, sie wußte es ganz genau – anderthalb Stück in jede Tasse!

Und als er die erste Tasse geleert hatte, die sehr bitter schmeckte, stand er stumm auf und goß sich eine zweite voll, und seine Frau bemerkte es gar nicht, sondern schnitt das kalte Fleisch auf ihrem Teller immer feiner und feiner, ohne davon zu essen.

Nach der Abendmahlzeit setzte sie sich nicht mit dem gewohnten Strickstrumpf in den gewohnten Stuhl, sondern kauerte sich im Sorgenstuhl neben dem Ofen zusammen und fror, fror ganz unbewußt in sich hinein, ohne zu wissen, weshalb, und er zündele sich eine Cigarre an und schritt im Zimmer auf und ab, auch völlig geistesabwesend.

Sie folgte ihm mit den Blicken. Ob er wohl daran denken Würde, ihr die warmen Pantoffeln zu holen? Anni that es immer des Abends, weil Mütterchen an kalten Füßen litt. Früher – ja, als die Kinder noch klein waren, wenn endlich Ruhe im Hause eintrat und die rosigen Dinger nach dem Abendgebet still in ihren Bettchen schliefen, dann brachte er ihr selbst die Pantoffeln und machte Witze dabei: es sei nur gut, daß sie die Pantoffeln erst bekäme, wenn es Abend würde – und ganz, ganz früher kniete er wohl nieder und zog ihr die hübschen blaugefütterten Pantoffeln an und blickte lachend zu ihr auf.

Sie schaute ihn an. War das derselbe Mann, der so ruhelos auf und ab ging, als sei er allein in der Stube? War das derselbe Mann dort mit den grauen Haaren und dem tief gesenkten Kopfe?

Dann stand sie rasch auf, um die Pantoffeln selbst zu holen. Man muß sich eben daran gewöhnen, wenn niemand mehr an eine alte Frau denkt!

Er ging weiter rastlos auf und ab. Weshalb war sie nur so ungemütlich? Sie that auch gar nichts, um es ihm behaglich zu machen. Warum strickte sie denn nicht wie sonst jeden Abend oder bat ihn, ihr vorzulesen? Was drückte sie sich denn in der dunklen Ecke am Ofen herum? Es wäre ja zum Verzweifeln, wenn das so fortgehen sollte!

Natürlich! um ihn kümmerte sich keine Menschenseele. Immer wieder mußte er zu ihr hinüber sehen. Er wollte ihr gern etwas Freundliches sagen, sie trösten! Aber er fand keine Worte.

„Hast du Kopfschmerzen, Christel?“ fragte er schließlich.

„Nein, nein, mir fehlt nichts! Mich friert nur,“ sagte sie, ohne den Blick zu heben.

Er sah sie an. Vor seiner Erinnerung stieg ein Bild auf, ein Bild, ganz deutlich und doch so fern. Blondes, junges Haar schmiegte sich an das dunkle Lederpolster des Sessels; zwei feine schlanke Hände auf einem hellen freundlichen Kleide! Ein junger Mann kam, zog eine Fußbank herbei, ganz dicht an ihre Füße und – – war es denn möglich? war das dieselbe dort?

Es überlief ihn, und er versuchte auszurechnen, wie lange das her sei. Sie saß da so stumm und wortlos, als sei sie fremd hier im Hause, fremd in dieser Umgebung, als säße sie in einem Wartesaale und harrte, bis der Zug abginge. Das durfte so nicht bleiben. Er mußte sie aus dieser Stimmung herausreißen. „Komm, Christel, Alte! Wir beide haben uns ja noch!“ wollte er sagen, aber er brachte es nicht über die Lippen. Es hätte ihm zu pathetisch geklungen.

Die Köchin kam herein und fragte, was am nächsten Tage gegessen werden solle, und die Hausfrau mußte sich lange besinnen.

„Was sollen wir essen, Fritz?“ fragte sie, während es ihr zu ihrem eigenen Erstaunen einfiel, daß sie seit Jahren keinen Küchenzettel gemacht hatte.

„Maccaroni mit Schinken,“ antwortete er ganz ernsthaft, ohne seine Zimmerwanderung zu unterbrechen.

Sie sah ihn so merkwürdig an, mit einem Blick, wie graue Leute ihn haben, wenn ein Zufall ihnen eine alte Jugenderinnerung wieder vorzaubert. Er pflegte früher oft unerwartet ein oder zwei Freunde plötzlich zum Essen mit ins Haus zu bringen, und wenn seine junge Frau händeringend ihm zuflüsterte: „Um Gottes willen, was soll ich ihnen nur vorsetzen?“ antwortete er: „Ganz einfach, Christel, Maccaroni mit Schinken.“

So hatte er es jetzt auch gesagt, mechanisch, ohne seine eigenen Gedanken zu unterbrechen.

Nun vergaß sie ganz, daß die Köchin in der Thür stand, bis der Hausherr etwas unwirsch äußerte: „Wir essen die Reste von heute! Das ist doch ganz einfach!“

Damit schritt er hinaus in sein Zimmer. Es dauerte nicht lange, dann kam sie, ihm „Gute Nacht“ zu sagen. Er sah ihr noch immer feines, hübsch geformtes Antlitz im Lichtkreis seiner Schreibtischlampe auftauchen.

„Gute Nacht, Christine! Halte nur den Kopf hoch! Wir – na – wir werden uns schon daran gewöhnen.“

Dabei versuchte er den Arm um sie zu legen, aber sie schüttelte resigniert den Kopf.

„Ja, ja, Fritz! Wenn es nur nicht so einsam wäre! Ich dachte schon, ob es nicht besser sei, ich ginge zu meiner Schwester nach Kiel auf einige Wochen, und du könntest nach Berlin fahren zu deinem alten Jugendfreund.“

„Mal sehen!“ antwortete er leise und ließ den Arm sinken.

An der Thür wandte sie sich noch einmal um.

„Du, Fritz, vergiß nicht! wenn morgen der Dienstmann kommt, du weißt schon, wegen Annis Frachtsachen, dann kann er gleich ihre Bettstelle auf den Boden schaffen; es ist zu traurig, immer das leere Bett vor Augen zu haben.“

„Ja, ja, ich will daran denken! Gute Nacht!“ Er ließ sich wieder im Lehnstuhl nieder und nahm die Zeitung zur Hand.

Mutter Christine kleidete sich langsam aus, und als sie den Frisiermantel anzog und sich vor den Toilettentisch setzte, blickte sie zaghaft in das Glas, aus dem ihr so oft Annis zartes, gutes Gesicht entgegengelacht hatte, wenn sie der Mutter half, die silbergrauen Haare für die Nacht zu ordnen. Sie schluckte die Thränen jedoch tapfer hinunter und legte sich mit einem leisen Seufzer zur Ruhe. Immerfort mußte sie in die Dunkelheit hinaushorchen, ob nicht eine frische Stimme ihr zurief: „Gute Nacht, Mütterchen!“ und ob nicht das Geräusch zu hören

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0502.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2022)