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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

,Wo willst du denn hin?‘ frug sie bange.

‚Fort!‘ sagte er, ,nur ganz weit fort!‘ Ich ließ sie beide gehn – ich dachte so halb und halb, er würde am Ende jetzt den richtigen Weg zu ihr zurückfinden, und ich hatte außerdem beschlossen, keinen Tag mehr vorbeizulassen, ohne etwas in der Sache zu thun.

Es dämmerte schon, als Allan und Annie zurückkamen – ich hatte vor, den Abend mit ins Seeschloß zu kommen, und wir saßen auf der Terrasse zusammen.

‚Bleiben wir heut’ einmal hier oben!‘ sagte ich zu Annie, ,gehn wir nicht mehr ans Meer!‘

Sie verstand mich und sah mich dankbar an. ,Nicht wahr, Allan, wir bleiben heute bei Mama?‘ sagte sie und legte schüchtern die Hand in seinen Arm.

Er nickte zerstreut. ,Ja, ich mag gar nicht mehr hinaus!‘ sagte er.

Aber als die Dämmerung tiefer wurde, begann er unruhig zu werden – ich sah, wie er mehrmals unter einem Vorwand aufstand und den Weg hinunterblickte. ,Ich glaube beinahe, ich habe Fräulein Sinaide versprochen, daß du noch mit mir auf den Dünenweg kommen willst, Annie,‘ sagte er dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit, ‚ob es nicht unfreundlich aussieht, wenn wir nicht kommen?‘

Sie sah ihm fest und traurig in die Augen – er wandte den Kopf unruhig ab.

‚Ich glaube nicht,‘ sagte sie, ‚und selbst wenn es so wäre – laß es doch unfreundlich aussehen – brauchen wir denn immer fremde Menschen?‘

Er schien sich zu fügen – ich setzte mich zu Frau v. Redebusch ins Zimmer und wir spielten eine Partie Halma – das Brautpaar stand auf der Terrasse und sprach leise.

Plötzlich fuhr ein pfeifender Windstoß durchs Zimmer, der die Lampe fast verlöscht hätte, die Thür war aufgesprungen, ich wollte sie schließen und sah Annie allein auf der Terrasse stehn.

,Wo ist Allan?‘ frug ich.

Sie wies nach der Düne hinunter – er ging mit raschen Schritten immer auf und ab, wir konnten in der tiefen, feuchten Dunkelheit seine Gestalt nur eben noch erkennen – das rote Fünkchen seiner Cigarre glimmte durch die Nacht.

In der Ferne gluckte und schluchzte das Meer im Zurückebben, auf der Höhe des Wassers standen finster und schattenhaft die Boote der Heringsfischer wie Gespensterschiffe, der Leuchtturm warf ab und zu einen zuckenden Feuerschein auf die dunkle Wasserfläche.

Annie stand regungslos, die Hände beide fest auf die steinerne Einfassung des Balkons gepreßt; ich sah auf ihr feines, schmales Gesicht, in das ein strenger Schmerzenszug gekommen war, und fühlte einmal wieder so recht, wie ohnmächtig der Mensch auch dem Liebsten und Nächsten gegenüber ist, wie er ihm nichts abnehmen und nichts geben kann, und wie jeder doch seine Schlacht allein schlagen – siegen oder zu Grunde gehen muß.

Plötzlich wandte sie sich nach mir um – ihr Mund zitterte, wie von mühsam bekämpftem Weinen.

,Es ist mir ja gar nicht so um mich!‘ sagte sie mit erstickter Stimme, ‚aber es ist so furchtbar schade um ihn!‘

Ich wandte mich kurz um und sagte drinnen Gute Nacht – als ich noch einmal zurückblickte, sah ich, wie Annie neben dem Sofa der Mutter hingekniet war und ihren Kopf auf die Kissen gelegt hatte. Die Mutter strich ihr sanft über das Haar, ich ging langsam nach Hause.

Es war mittlerweile spät geworden – Allan war draußen nicht zu sehen. Als ich in mein Zimmer trat, saß er am Tisch, den Kopf in die Hände vergraben, und sprach nicht.

Ich berührte ihn sanft an der Schulter.

Er fuhr erschreckt empor.

‚Wo warst du denn so lange?‘ frug ich.

‚Am Strande – mit Sinaide!‘ sagte er mit einem sonderbaren Lachen, ‚sie hat mich erst bis halb zehn Uhr warten lassen – dann ist sie endlich doch gekommen. Und dann schwärmte sie mir die ganze Zeit von dem Besuch vor, den sie gehabt hätte, wie lustig, wie unterhaltend und hübsch er wäre! Und wie ich zornig wurde und weggehen wollte, lachte sie mich aus und sagte: ‚Es ist ja alles nur Scherz – ich habe mich ja ganz abscheulich mit ihm gelangweilt!‘ ,Aber wozu dieser Scherz?‘ frug ich sie. Und weißt du, was sie da sagte? ‚Ich wollte einmal sehen, was Sie für ein Gesicht dazu machten – Sie ziehen die Augenbrauen immer so zusammen, wenn Sie sich ärgern – das steht Ihnen sehr gut – bitte, machen Sie das auch jetzt noch einmal!‘ Und wie ich sagte: ‚Sie quälen mich, wie ein grausames Kind ein hilfloses Tier quält,‘ da erwiderte sie mir: ‚Aber das braucht Sie doch nicht zu quälen – das geht Sie ja gar nichts an – Sie sind ja verlobt!‘

‚Und was sagtest du darauf?‘ frug ich ernsthaft.

‚Ich? Du wirst empört sein, Rütgers – aber ich sagte – oder besser, etwas sagte aus mir heraus: ,Und wenn ich’s nicht wäre?‘ Da antwortete sie nur ganz kaltblütig: ,Dann würde ich Sie sehr beglückwünschen – ich halte Heiraten für einen Unsinn!‘ – Gute Nacht, Rütgers – ich bin so froh, daß ich dir das alles erzählen kann – da ist mir manchmal, als wenn mein Herz nicht mehr so bleischwer wäre!‘

Er gab mir seine fieberheiße Hand und ging nach der Thür, dort blieb er noch einen Augenblick stehen. ‚Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn,‘ sagte er traurig und ging hinaus.

Ich blieb die halbe Nacht wach und schritt in schweren Gedanken in meinem Zimmer auf und ab – so ging es nicht weiter, das war mir klar!

(Schluß folgt.)


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Oberschlesische Zustände im Jahre 1848.

Ein Erinnerungsblatt von Max Ring.

Seit dem Jahre 1840 lebte ich als praktischer Arzt in Gleiwitz, dem Mittelpunkt des oberschlesischen Bergbaus und Hüttenwesens, wo ich hinlängliche Zeit und Gelegenheit fand, Land und Leute genauer kennenzulernen. Auf meinen häufigen Berufsreisen und Ausflügen in der Umgegend von Gleiwitz führte mich mein Weg durch öde Sandflächen, vorüber an schlecht oder nachlässig bestellten Feldern, an verdorrten Kartoffeläckern und düsteren, einförmigen Kiefernwäldern, durch schmutzige Dörfer, mit jämmerlichen Strohdächern auf den verfallenen Häusern, in denen der in Armut verkommene Landmann ein erbärmliches Leben führte, in beständigem Kampf mit Not und Sorge. Plötzlich aber überraschte mich das hohe Schloß eines reichen Gutsherrn oder das großartige Hüttenwerk eines angesehenen Industriellen, reizende Villen, von geschmackvollen Gärten und Anlagen umgeben. Denn in der Tiefe, unter dem dürren, unfruchtbaren Boden verborgen, ruhten die unermeßlichen Schätze der Erde, die schwarzen Diamanten der unerschöpflichen Kohlenschichten, die mächtigen Erzlager, Eisen und Zink, die den glücklichen Besitzern ein fürstliches Einkommen sicherten. Zahlreiche Bergleute in schwarzen Leinwandkitteln, mit dem Schurzfell auf dem Rücken und der Grubenlampe am Gürtel, zogen schon am frühen Morgen an mir vorüber, tauchten gleich nächtigen, bleichen Schatten auf und nieder und verschwanden wieder in der unheimlichen Tiefe, welche neben ihren Schätzen die tückischen Geister der schlagenden Wetter, die erstickenden Gase und die wilden Gewässer barg.

Nicht selten wurde meine ärztliche Hilfe für die Verunglückten in Anspruch genommen, die durch eine verderbliche Explosion, durch Einsturz des Gesteins oder den Durchbruch des Wassers zu Schaden an Leib und Leben gekommen waren. Aus dem finstern Schacht wurden die Leichen oder die mit zerschmetterten Gliedern noch lebenden Arbeiter emporgewunden, erwartet von jammernden Frauen, entsetzten Kindern, von den bleichen Genossen und Freunden, die früher oder später ein ähnliches Schicksal ereilen konnte.

Neben den niedrigen Gebäuden der Bergleute ragten die mächtigen Hüttenwerke mit ihren riesigen Schornsteinen empor. Der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0540.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2023)