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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

,Warum?‘ frug ich barsch – sollten die Menschen diesen großen Jammer für ihr müßiges Gerede benutzen?

,Er hat ja heute früh einen Brief vom Gericht bekommen,‘ sagte die alte Frau schüchtern und erschreckt durch meinen Ton, ,und als er den gelesen hatte, wurde er so kreidebleich, daß ich sagte: ,Ach Gott, Sie sehen ja aus, als wenn das Haus mit Ihnen zusammenstürzte!‘ Da lachte er so sonderbar und sagte: ,Es ist auch ungefähr so – wenn der Doktor kommt, sagen Sie ihm nur, ich hätte meinen Prozeß verloren – ist das nicht spaßhaft?‘ und dabei lachte er wieder, als wenn er ganz verwirrt wäre. Mir wurde angst und bange, Herr Doktor – und jetzt ist er nach der Villa Bella zu gegangen, aber ob er dort ist, das weiß ich nicht – und der Sturm ist doch auch nichts für seinen Husten!‘

Ich ließ sie gedankenlos an mich hinreden – mir sauste und summte es vor den Ohren, daß ich nicht wußte, ob der Sturm draußen oder mein eignes, erregtes Blut diesen unheimlichen Singsang ausführte – wortlos nickte ich der verwunderten Frau zu und ging nach Hause.

Ich hatte das sichere Gefühl, er würde zu mir kommen – und wo hätte ich ihn denn suchen sollen? Bei Sinaide? Das war ja unmöglich – in welcher Eigenschaft konnte ich nach unserer letzten Unterredung das Haus ungerufen betreten, nachdem er zudem jede Einmischung meinerseits so gänzlich von der Hand gewiesen hatte?

So saß ich wartend in meinem Zimmer – es war noch früher Nachmittag, aber so düster draußen, daß es schon ganz dämmerig schien, da stand er plötzlich vor mir wie vom Sturm hereingeweht – totenblaß, ohne Atem – ohne Besinnung – mit einem so verstörten, entsetzten Ausdruck, daß ich im ersten Augenblick die Hände wie abwehrend gegen ihn ausstreckte, als sähe ich einen Geist. Erst dann faßte ich mich gewaltsam, um zu ihm zu sprechen.

Aber er kam mir zuvor.

‚Rütgers,‘ begann er mit seltsamer, tonloser, gequälter Stimme, ‚sage mir die Wahrheit – gieb mir dein Ehrenwort, daß du mir die Wahrheit sagst, wenn ich dich jetzt etwas frage!‘

Es handelt sich um Sinaide, sagte ich zu mir selbst, dann laut: ,Ja, mein Junge, ich gebe dir mein Wort – ich sage dir die Wahrheit – ich thue es immer, wenn ich es kann!‘

Er fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn und sprach wie jemand, der eben übermäßig rasch gelaufen ist, mit kleinen, zitternden Atempausen zwischen den Worten: ,Ist es wahr, Rütgers – bin ich krank? – bin ich so krank?“

Ich zog ihn liebevoll neben mich aufs Sofa – mir war, als sollte mir das Herz brechen; aber ich durfte ihn doch nicht belügen.

,Ja, mein armer, lieber Junge, du bist krank,‘ sagte ich möglichst sanft und ruhig, ,aber wer hat dir das gesagt?‘

,Sinaide!‘ erwiderte er dumpf und ließ den Kopf sinken, als wenn ihn eine Last niederbeugte.

,Das hat sie gewagt?‘ knirschte ich – mir stürzte alles Blut zum Herzen.

,Ich bat sie – ich fiel ihr zu Füßen – da sagte sie erst: ,Wenn ich doch nicht will‘ – so recht überdrüssig und ungeduldig – und dann sagte sie – ich weiß die Worte noch ganz genau, sie haben sich mir wie Glasscherben in die Seele geschnitten – sie sagte: ,Und außerdem, mein lieber Herr von Senden, sind Sie ja viel zu krank‘ – zu krank! zu allem, Rütgers, ja? zu allem? auch zum Leben?‘

Seine Augen brannten mit so verzweifelter Furcht auf meinem Gesicht, daß ich es fast nicht ertrug – ich strich ihm beschwichtigend über das Haar und sprach zu ihm wie zu einem Kinde, dem man die Gespensterangst ausredet: ,Nein, mein lieber Junge – Gott verhüte, daß du dir solche Gedanken machst – so steht es nicht!‘

Er sah mich, ruhiger werdend, an – dann nickte er ein paarmal langsam vor sich hin.

‚Ich weiß jetzt genug – du brauchst mir nichts mehr zu sagen – es ist ja vielleicht am besten so!‘ erwiderte er mit seiner seltsam klanglosen Stimme, ,laß mich jetzt ein paar Stunden allein mit mir – ich muß mir selbst aus dem Wege kommen!‘

Ich wollte ihn aufhalten oder ihm folgen – das weiß ich nicht mehr zu sagen; aber in dem Augenblick kam ein Trupp Menschen, der einen Verunglückten brachte, er war am Verbluten – ich durfte da nicht weggehen – und ich konnte Allan nicht zurückhalten – er war fort.

Nie habe ich gedankenloser, bewußtloser meine Arbeit gethan als in jenen Augenblicken – ich verband den armen Teufel da vor mir so gleichgültig, als wäre er ein Stück Holz – und dabei war es ein schwerer Fall, er hielt mich wohl eine Stunde lang auf.

Sowie ich mit gutem Gewissen fort konnte, stürzte ich aus dem Hause – ins Seeschloß. Allan war nicht da – ich schrie, den Sturm übertönend, jeden Vorübergehenden mit der Frage an, ob er ihn gesehen hätte – keiner wußte von ihm! Ich ging an den Strand – da war weit und breit kein Mensch – der heiße Sturm hatte alles in die Häuser gefegt, und wie ich mich einsam und keuchend gegen die Gewalt dieses Luftstroms am Meer entlang kämpfte, flogen mir die Wirbelwolken von spitzem Seesand so höhnisch in die Augen, als wollten sie sagen: Such’ du nur!

Schließlich kehrte ich verzweifelt um und ließ mich vom Sturme mehr tragen als ich ging – es war schon ganz finster.

Als ich nach Hause kam, umlagerte eine Menschenmenge meine Thür – man hatte mich erwartet. Sie hatten ihn unten am Strande gefunden – ohnmächtig infolge eines Blutsturzes – und jetzt war er in den Outlander getragen und auf sein Bett gelegt worden.

Er atmete noch schwach, aber er atmete doch, und ich dankte Gott dafür, obwohl ich in diesem Augenblick ihm mehr gedankt haben würde, wenn ich den leisen Ton nicht mehr vernommen hätte. Diese Nacht werde ich nie vergessen!

Der Sturm! – ich habe nie vorher und nie nachher einen gleichen erlebt – das leichte Haus schien sich unter seinem Griff zu biegen und hin und her zu schwanken! Der Sturm! Er tappte die ganze Nacht wie ein fürchterlicher blinder Riese in dem finstern Hause herum und schlug mit gewaltigen, zornigen Fäusten an die Fenster und schüttelte die Wände, daß der Sand hinter den Tapeten mit knirschendem Ton niederrieselte. Dann fuhr er wieder mit einem pfeifenden, jammernden Ton ums Haus, daß es klang wie der Schrei einer hoffnungslosen, verlornen Seele – und dabei kämpfte die ganze Nacht hindurch ein armes gequältes Menschenkind seinen stummen Kampf um Leben und Tod!

Gesprochen hatte er während dieser Stunden nicht – nur einmal gab er mir ein Zeichen, daß ich mich zu ihm herunterbeugen sollte, und sagte – eigentlich nur durch Lippenbewegungen: ,Nicht wahr, wenn du sie siehst, dann fragst du sie einmal, ob sie sich denn nie etwas aus mir gemacht hat? Es ist mir eigentlich heute alles gleichgültig – aber das frage ich mich doch immer, und deswegen kann ich nicht schlafen!‘

Ich nickte ihm zu – sprechen konnte ich nicht.

Gegen Tagesanbruch ließ der Sturm nach, aber das Meer brüllte immer noch wie ein wütendes Tier, das um sein Opfer betrogen worden ist, und schien mit jedem Augenblicke näher zu kommen. Allan fuhr mit den Händen nach dem Kopfe, wie in Verzweiflung: ,Die See soll einen Augenblick still sein!‘ flüsterte er mit seiner tonlosen Stimme, ,ich kann es nicht mehr aushalten!‘

Und dazu dies Haus, das jeden Ton, jeden Luftzug durchließ!

Ich ging einen Augenblick von ihm fort und trat vor die Thür. Der kalte, blasse Morgen lag freudlos über der ungeheuern Weite, die aus einem wüsten Gewirr tobender, schäumender Wasser zu bestehen schien – in der Ferne glimmte ein feuriges Morgenrot auf wie eine Kriegsfackel.

Ich starrte gedankenlos, erschöpft und wirr auf dies Bild – in meinem Kopfe wirbelten die Gedanken ebenso wild durcheinander wie die Wellen da unten. Wo soll er hin? Hier im Outlander konnte er nicht bleiben – noch eine solche Nacht, und der schwache Lebensfaden riß. In mein Haus, wo den ganzen Tag Menschen kamen und Menschen gingen, konnte ich ihn auch nicht nehmen – und ins Seeschloß? Zu denjenigen, denen er so weh gethan – in deren Herz er den Dolch gestoßen und umgekehrt hatte – wenn auch nicht aus Schlechtigkeit, so doch aus krankhafter, unmännlicher Schwäche? Und doch tauchte vor meinem Geist das Seeschloß wieder und wieder auf – mit seinen dicken Steinmauern und seinen großen, luftigen Zimmern – und ich sagte mir mit furchtbarem Herzweh, daß es ja aller Voraussicht nach nicht auf lange sein werde.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0574.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)