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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Als der Morgen etwas weiter vorgeschritten war, so daß ich erwarten durfte, Mutter und Tochter schon wach zu finden, ging ich hinüber. Frau v. Redebusch war zum erstenmal seit ihrer Krankheit aufgestanden und saß noch matt und müde im Lehnstuhl. Annie war nicht zu sehen.

Frau v. Redebusch streckte nur die Hand entgegen. ,Ich bin noch so schwach, Herr Doktor,‘ sagte sie in ihrem klagenden Ton, ,und dabei will Annie abreisen – – sie denkt ja doch sonst immer an mich – aber sie ist wie ausgetauscht. Ganz unverständig seit ein paar Tagen – ich kenne sie gar nicht wieder!‘

Ich antwortete kurz und beruhigend und begann dann in fliegenden Worten das Geschehene zu berichten, zu erzählen, wie Allan auf den Tod läge, wie alles davon abhänge – nicht für seine Genesung, an die glaubte ich nicht – aber für die augenblickliche Erleichterung furchtbarer Stunden – daß er in eine ruhige, behagliche Umgebung käme, und ich brachte stockend und zaghaft meine Bitte vor, ihn hierher bringen lassen zu dürfen. ‚Aber können wir es Fräulein Annie zumuten?‘ schloß ich sorgenvoll.

Frau von Redebusch winkte mir mit der Hand ab.

,Das kann ich nicht sagen, Herr Doktor – mir scheint, sie hat genug gethan und ertragen um dieser unglückseligen Geschichte willen. Was ich thäte, das weiß ich – aber was sie thäte, das müssen Sie sie selbst fragen!‘

Und ich frug sie, als sie mit ihrem stillen Friedensgesicht, das sich schon wieder zu seinem alten Ausdruck durchzukämpfen begann, in die Thür trat – ich frug sie, und sie antwortete sofort, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen – sie sagte nur: ,Und warum ist er noch nicht hier?‘

Am selben Nachmittag trugen wir ihn ins Seeschloß, in eines der großen, hellen Hinterzimmer, nach Süden gelegen, in denen selbst an unruhigen Tagen das Meer nur wie aus traumhafter Ferne zu hören war, in denen es bei stillem, schönem Wetter nach Lavendel und Sonnenschein duftete und durch deren offene Fenster die Bienen und Citronenfalter surrend ein- und ausschossen.

Dort legten wir ihn zu Bett – und als ich Annie hereinrief, als sie beim Anblick seines veränderten und verstörten Gesichtes, seiner keuchenden Brust und seiner angstvollen Augen so gefaßt, so ruhig, so still blieb, sich so einfach liebevoll über ihn beugte und ihm die Hand auf die Stirn legte, als hätten sie sich vor einer Stunde erst getrennt – als der gespannte Ausdruck seiner Züge sich unter dieser Hand so sachte löste und sich in ein stilles, müdes Ruhen verwandelte – da ging ich getrost meiner Wege ich wußte ihn in guten Händen!

Der Sturm draußen hatte auch nachgelassen; er schleppte sein Gewand düsterer Wolken noch in einzelnen, großen, zerflatterndcn Fetzen am Himmel hin, zwischen denen es schon wieder leuchtend blau und sieghaft hervorglänzte. Die Sonne brach durch – und alles sah so strahlend, so frisch, so herrlich aus – die Natur kämpft ihre schwersten Kämpfe durch, ohne daß ihr ewig schönes und junges Antlitz eine Spur davonträgt, und nur wir armen Minutengeschöpfe bezahlen jeden rascheren Pulsschlag mit unseren Kräften und mit unserem Herzblut.

Ich ging zur Villa Bella. Der General und Sinaide saßen in dem offenen Vorsaal, in dem ich Allan zum erstenmal diesem – Geschöpf gegenüber gesehen hatte. Sie schenkte dem Großvater eben, als ich kam, mit ihrer ganzen kätzchenhaften Grazie den Thee ein; als sie mich sah, lächelte sie mich so unbefangen, so glückstrahlend und aufleuchtend an, als hätten wir einander nie anders gegenübergestanden.

,Nun, Herr Doktor – wo haben Sie sich denn so lange versteckt?‘ rief sie mir mit ihrer lieblichen Stimme entgegen, ,wir sind schon fast vor Sehnsucht nach Ihrem ernsthaften Gesicht gestorben – nicht wahr, Großpapa?‘

Der alte Herr, der seine Stimmungen bewußt und unbewußt immer nach den ihrigen richtete, begrüßte mich auch freundlich und wies auf einen Stuhl neben sich.

Ich dankte kurz und blieb stehen. Ich war in der ersten Minute wirklich unfähig, ein Wort hervorzubringen – ich hätte sie mit den Händen packen und fortschleudern mögen wie ein schädliches Tier, und ihre Schönheit hatte jede Macht über mich verloren! Etwas davon mochte wohl in meinen Augen zu lesen sein, als ich so vor ihr stand.

Der General erhob sich, als das Schweigen fortdauerte, verlegen, murmelte etwas von Cigarrenholen und verließ das Zimmer.

Wir beide blieben allein.

Sie trat dicht zu mir heran und sah mir von unten her in die Augen. ,Sie sind böse, weil ich Ihren Freund gestern etwas hart angelassen habe!‘ sagtn sie in ihrem einschmeichelndsten Ton, ,aber was wollen Sie denn? – es ist nicht meine Schuld – es ist mein Schicksal! Ich habe meine Puppen auch immer am dritten Weihnachtsfeiertage in die Ecke geworfen – ich war seiner so überdrüssig, er nahm es so langweilig ernsthaft!‘

Ich sah sie finster und drohend an.

,Ich habe einen Auftrag an Sie,‘ begann ich kurz und herb, ,ich soll Sie in – seinem Namen etwas fragen! Sagen Sie mir einmal: haben Sie sich nie etwas aus ihm gemacht, nie im Ernst?‘ Sie kniff einen Augenblick die Augen zusammen, als besänne sie sich. ,O ja!‘ sagte sie dann ganz unbefangen, ,so im Anfang – er ist ja so sehr hübsch – und auch sehr liebenswürdig – da habe ich ihn wirklich sehr gern gehabt – zwei Tage lang!‘

,Zwei Tage!‘ sagte ich vor mich hin, ,nun, das ist ja schon eine ganze Weile!‘

Der General kam zurück und bot mir eine Cigarre an – ich dankte – ich wartete von Augenblick zu Augenblick, ob nicht eins von den beiden fragen würde: ,Wie geht es ihm denn?‘ Als das aber nicht geschah und sie in den unbefangensten Plauderton verfielen, da berichtete ich kurz und ohne ausschmückende Redensarten, was gestern vorgefallen war – daß er einen schweren Blutsturz gehabt habe und auf den Tod läge, daß sein Leben möglicherweise nur nach Stunden oder Tagen noch zähle.

Der alte Herr – zu seiner Ehre sei es gesagt – wurde blaß und ging ein paarmal hastig im Zimmer auf und ab; er warf einen scheuen Blick auf seine Enkelin, der fast aussah, als fürchtete er sich vor ihr.

Und sie? Sie sagte: ,Ach, das ist ja sehr traurig – das thut mir wirklich sehr leid! Weißt du, Großpapa, da wollen wir doch heute nachmittag lieber einen anderen Weg fahren – nicht am Seeschloß vorbei es könnte den armen Herrn von Senden stören und es bringt einen auch so um die Stimmung!‘

,Sie sind von einer unendlichen Güte und Rücksicht, mein gnädiges Fränlein!‘ sagte ich mit schneidendem Ton und ging meiner Wege.

Als ich eben über die Schwelle getreten war, sagte ich laut vor mich hin – so laut, daß ich erschrak, denn sie mußte es fast gehört haben: ,Und um die!‘ – und damit war dieses Kapitel aus unserer Geschichte beendet.

Sie hatte Allans Straße gekrenzt wie ein Komet, der seinen prachtvollen, feurigen Schweif hinter sich her schleppt – verwüstend, wo seine Bahn geht – und dann weiter ins Blaue des Nachthimmels hineinstürmt, um wo anders wieder zu zerstören – die Natur mag ja auch solche Elemente brauchen – sonst würden sie wohl nicht da sein!

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Nach wenigen Tagen stand die Villa Bella leer – im offenen Wagen fuhren die Bewohner davon, der große gelbe Hund sprang in ungeschickten Sätzen um den Wagen herum, als sie am Seeschloß vorbeifuhren, und Sinaide lachte über ihn wie toll – das ist das letzte, was ich von ihr gesehen und gehört habe.


Allan begann sich inzwischen langsam ein wenig zu erholen – es kam ihm körperlich zu statten, daß er geistig und gemütlich wie gebrochen war, und wiederum machte seine körperliche Schwäche ihn unfähig, sich innerlich zu erregen, er lebte so hin – wenn man das ‚leben‘ nennen darf: er atmete noch, er ließ sich bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen – zu schlafen – zu wachen – aber es war wie ein Scheindasein.

Er ging zwischen uns anderen herum wie durch eine unsichtbare Scheidewand von uns getrennt, wie das Schwerkranke so an sich haben, denen das Leben nichts mehr bietet, als daß es eben von Tag zu Tag noch gelebt sein will. Nach und nach wurde es etwas besser – er saß vor der Thür in der warmen Herbstsonne – erst regungslos – stundenlang; dann begann er mit seinem Stock ein wenig im Sande zu kritzeln – das begrüßten wir schon als einen Fortschritt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0575.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)