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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ganz besonders lebhaft. Der unter dem Namen Neubert in die Arbeiterschaft von Josephsthal eingetretene Geheimpolizist Korty hatte seine Zeit gut benutzt und es verstanden, rasch das Vertrauen und die Freundschaft derer zu erwerben, an die er sich anschloß. Jetzt hatte er wieder an jedem Arm einen Genossen, ein einzelner Mann ging nebenher; die vier nahmen die ganze Breite der Dorfstraße ein. Korty hatte eine eigene Kunst, andere zum Plaudern zu bringen. Auch jetzt waren die Gefährten in der redseligsten Stimmung und er horchte stillvergnügt auf das, was sie miteinander sprachen.

„Störche hast jetzt erst gesehen?“ fragte der eine, ein langer, hagerer Mann, dessen Gliedmaßen so lose an seinem Körper pendelten, als gehörten sie nicht zu ihm. „Hast woll geschlafen die letzten zwei Wochen – was? Volle vierzehn Tag’ sind sie schon da, die Adebars – nich, Neubert?“

„Mußt keinen Junggesellen ’nach fragen, Karl Adamski!“ entgegnete dieser mit seinem pfiffigen Schmunzeln.

Die übrigen lachten, und Karl Adamski fuhr sich halb ärgerlich, halb verlegen mit der schwieligen Hand in sein Zottelhaar.

„Na, ich meine bloß, Neubert, weil du immer alles wissen thust und hast deine Augen und Ohren überall! Aber das wird mir keiner glauben wollen und doch hab’ ich’s heute ganz deutlich gehört: nämlich den Vogel Bühlow singen!“

„,Pirol‘ heißt es!“ belehrte einer der andern.

„Na, ich sag’ Bühlow, so nennt man ihm hierzulande. Und gesungen hat er heute!“

„I, Adamski, laß’ dir doch nich auslachen! Wie kann um diese Jahreszeit der Pirol –“

„Und ich hab’ ihn gehört, sag’ ich!“

„Der kriegt erst im Sommer Erlaubnis, zu singen. Mit die Vögel is ’s accurat so wie mit den Menschen – hat alles seine richtige Zeit!“

„Na ja, hab’ mich auch gewundert d’rüber, aber ich hab’ doch meine Ohren am Kopf!“

„Das stimmt! ’n paar ganz nette Löffel noch dazu!“

„Wer weiß, Karl Adamski, was für ’n Vogel dir im Kopp gesungen hat! Es giebt so ’ne Sorte –“

„Danke! Um Mittag? Da bin ich nüchtern. Und ich sag’ euch: hier an der Schneidemühl’, wie ich heut’ mittag nach Hause bin, da, wo unser Oberingenieur wohnen thut, hat es drei-, viermal geklungen: ,Junker Bühlow‘, ,Junker Bühlow‘, ‚Junker Bühlow‘! Aber wie ich mich auch umsah – kein Vogel war zu sehen!“

„Ja, das glaub’ ich! Wenn du den Vogel auch noch hätt’st zu sehen gekriegt, hätt’st dir müssen ’ne Prämie ’für bezahlen lassen!“

„Na, ich merk schon, ihr wollt mir nich glauben!“ sagte Karl Adamski beleidigt. „Einerlei, gesungen hat er doch!“

Das kleine Intermezzo mit dem „Vogel Bühlow“ hatte zwei sehr aufmerksame Zuhörer gehabt, während die andern sich damit begnügten, zu lachen und Karl Adamski zu hänseln.

Korty, der zwischen den zwei Kameraden seinen nachlässigen Schlendergang fortsetzte, als habe das alles für ihn nicht das mindeste Interesse, richtete seine wachsam funkelnden Augen auf den harmlosen Sprecher, der ihm als einer der bravsten, zuverlässigsten Arbeiter der Schneidemühle bekannt war. Getrunken hatte Karl Adamski, von der Fabrik kommend und zum Mittagsessen gehend, keinesfalls, und an irgend welchem Ueberschuß von Phantasie oder an Hallucinationen litt er auch nicht – der Pirol aber konnte um diese Jahreszeit noch nicht rufen – was also hatte das zu bedeuten? Irgend ein Signal vermutlich – aber von wem abgegeben? Und für wen bestimmt?

Der zweite Zuhörer war Oberingenieur Harnack. Durch die rasch zunehmende Dunkelheit gedeckt, war er unbemerkt und unerkannt hinter der Gruppe von Arbeitern hergegangen, langsam, denn er war von der angestrengten Thätigkeit des Tages und von der weichen, erschlaffenden Frühlingsluft sehr müde und ganz in Gedanken vertieft, die ihn auf das Gespräch der Leute erst achten ließen, als zufällig das Wort „Pirol“ an sein Ohr schlug. Da wurde er aufmerksam, hob den Kopf, strengte sich an, um zu hören, und hörte auch. Bei den Worten Adamskis: „Wo unser Oberingenieur wohnen thut!“ fuhr er leicht zusammen. Dann hielt er sich dicht hinter den Redenden und merkte weiter scharf auf, aber die Leute hatten das Thema gewechselt, und vom Pirol war keine Rede mehr.

Das Haus, in welchem Oberingenieur Harnack wohnte, war ziemlich groß, gleichfalls in gefälligem Schweizerstil erbaut und beherbergte den Direktor der Sägewerke samt Familie, den zweiten Ingenieur und einen jungen Techniker, der die Instandhaltung oder Reparatur der Maschinen zu überwachen hatte. Die beiden jungen Herren hielten treulich mit dem Direktor zusammen und hatten auch Harnack des öfteren heranziehen wollen, allein dieser verhielt sich spröde. Der Direktor hatte zwei erwachsene Töchter, und Harnack schwärmte durchaus nicht für Damenverkehr. Er liebte es, abends stundenlang auf seiner „Bude“ fachwissenschaftliche Werke zu lesen, und hatte sich bei den übrigen jüngeren Beamten, die gerade nur thaten, was sie mußten, und ihre Freistunden zum Skat oder zu geselligen Freuden verwendeten, in den Ruf eines ungemütlichen „Büfflers“ gebracht, dessen Abwesenheit man schließlich nicht zu bedauern brauchte.

Heute lagen sämtliche Fenster des Vorderhauses dunkel da. Der Direktor der Walzmühle feierte den Geburtstag seiner Tochter, die ein sehr hübsches Mädchen und der Stern der Kolonie Josephsthal war, durch eine Gesellschaft im nahen „Hotel“. Einladungen waren nach allen Seiten hin ergangen, es sollten lebende Bilder gestellt werden und man wollte tanzen. Die jüngeren Herren hatten Bouquets aus Greifswald verschrieben und eifrig Lackstiefel, Atlasschlipse und Klapphüte revidiert. Man hatte wochenlang offizielle Trauer um den Chef zur Schau getragen – nun war es höchste Zeit, daß man auch endlich einmal wieder mobil wurde. Die hübsche Direktorstochter war das einzige Kind, sehr lebenslustig, sehr wohlhabend, die Eltern machten ein angenehmes Haus. Man amüsierte sich immer famos in der Walzmühle.

Ingenieur Harnack bewohnte drei mäßig große Zimmer im ersten Stock des Hauses. Sie lagen nach dem Garten des Direktors hinaus und boten den Vorteil, daß es sich überaus gut in ihnen arbeiten ließ. Eine ältliche Witwe, die Frau eines vor einigen Jahren verstorbenen Maschinisten, reinigte die Zimmer der unverheirateten Herren, heizte die Oefen und besorgte die Wäsche. Die Mittagsmahlzeiten lieferte das in seiner Art berühmte Hotel der Kolonie Josephsthal, und Kaffee und Thee brauten sich die Herren selbst, was sie indessen nicht hinderte, sich so oft wie nur möglich in die verschiedenen Direktorfamilien einladen zu lassen oder bis in die halbe Nacht hinein im Wirtshaus zu sitzen. Harnack machte dergleichen Extravaganzen nicht mit; seine Kameraden hielten ihn deshalb für geizig. Er mußte gehörige Ersparnisse machen, denn er bezog ein hübsches Gehalt. Oder ob er Verpflichtungen nach auswärts hatte? Auch in Beziehung auf seine Verhältnisse war er äußerst zurückhaltend. Einmal hatte er Besuch von einem jungen Menschen gehabt, aber niemand wußte, wer es gewesen war oder was er gewollt hatte. Es war auch schon eine geraume Zeit her – – inzwischen war Harnack einmal in Hamburg gewesen auf wenige Tage, das einzige Mal, daß er sich Urlaub erbeten hatte. –

Im Flur brannte eine große Gasflamme unter einer Milchglaskuppel, als der Ingenieur die Thüre des Hauses öffnete. Bunte Läuferdecken lagen über den Treppenstufen, die Decken waren hübsch gemalt, die Treppengeländer mit rotem Sammet überzogen. Alles war wohnlich und behaglich eingerichtet, die Beamtenhäuser der Kolonie Josephsthal konnten sich sehen lassen. Gerade kam der junge Techniker, der im zweiten Stock residierte, mit langen Sätzen drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herab, den hellen Havelock lose um die Schultern geworfen, die strohfarbenen Glacés noch nicht geknöpft. Hinter ihm her stolperte die Wirtschafterin, die einen großen flachen Korb, mit einem Tuch zugedeckt, im linken Arm trug.

„Abend, Herr Oberingenieur!“ grüßte der Jüngling in atemloser Eile und hob flüchtig zwei Finger an den Hutrand. „Hab’ mich scheußlich verspätet – werden im Hotel schon auf mich warten – mußte aber mein Kostüm anprobieren – – Rokoko, – riesig kleidsam, sag’ ich Ihnen, – wird nett werden! Machen Sie ’n bißchen fixe Beine mit Ihrem Korb, Frau Lunk – da steckt nämlich der ganze Staat drin. Servus, Herr Oberingenieur!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0614.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)