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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Die tanzenden Sonnenlichter, die goldig über Alix’ Gestalt hingegaukelt waren und ihr Haar unter dem niedrigen schwarzen Hütchen aufglühen ließen, folgten den Reitern nicht mehr bis hierher, lichtgrüne Dämmerung wob nun ihre Schleier um sie. Die jungen Leute hatten zuvor die Pferde tüchtig ausgreifen lassen, dazwischen lebhaft miteinander geplaudert; nun schwiegen sie beide, wie auf Verabredung, und lauschten dem Herzklopfen des Waldes. Ein junges Reh tauchte rechts von ihnen im Gebüsch auf, duckte sich einen Augenblick, blieb dann stehen und äugte herüber. Deutlich waren die klaren Lichter zu erkennen, wie es stand und witterte, bis es plötzlich mit zwei, drei hastigen Sprüngen verschwand. Die Farnwedel und hochgeschossenen Gräser, zwischen denen es gestanden hatte, zitterten und wankten noch eine ganze Weile.

„Haben Sie gesehen?“ fragte Hagedorn lächelnd, mit halber Stimme.

Alix nickte. „Das wunderhübsche kleine Tier! Sehen Sie, für die Jagdpassion habe ich nun gar kein Verständnis, obgleich ich gestehen muß, daß mir Wildbret gut schmeckt. Aber hinter einem wehrlosen Geschöpf her sein und alle Listen anwenden, um es zu töten – – – nein, ich könnte es nicht! Aber, bitte, sollen wir hier noch weiter? Der Weg ist so schmal, und hier verliert er sich ganz …. müssen wir denn nicht umkehren?“

„Wenn Sie die Aussicht sehen wollen, von der ich Ihnen sprach, nicht. Es ist allerdings kein regelrechter Weg da, aber man kommt doch durch. Ganz zuletzt werden wir wohl absteigen müssen. Lassen Sie ,Primrose‘ links gehen und geben ihr, bitte, die Zügel etwas freier; sie verträgt es nicht, so kurz gehalten zu werden.“

Alix gehorchte schweigend.

„Ist es nicht merkwürdig und traurig,“ begann sie von neuem, „daß ich mich auf dem Grund und Boden, der meine Heimat ist, so gar nicht zurechtfinde? Daß Sie mir hübsche Aussichtspunkte zeigen, mir die Wege weisen müssen, während es umgekehrt sein sollte?“

„Es hat wohl nicht an Ihnen gelegen, daß es so kam?“

Alix schüttelte den Kopf. „Papa wollte mich nicht hier in Josephsthal haben. Er konnte mich nicht brauchen. Er baute viel, hatte immerzu neue Projekte und Ideen, da fand er keine Zeit für mich, und so bin ich meiner Heimat eigentlich entfremdet.“

„Sie werden sich wieder heimisch machen, einleben! Wenn man so jung ist, fällt das nicht so schwer, und Sie lieben ja Ihre Heimat, das sehe ich!“

„Primrose“ bekam einen lang herabhängenden, geschmeidigen Birkenzweig ins Gesicht und prallte zurück. Sie schnob hörbar und begann hinter sich zu treten. Doch Alix verlor nicht die Fassung.

„Sehen Sie, so empfindlich ist sie gleich! Nein, bitte, lassen Sie“ – Hagedorn hatte die Hand nach dem Zügel ausgestreckt – „ich muß doch allein mit ihr zurechtkommen, und solche Unarten dürfen ihr nicht ungestraft durchgehen!“

Er blieb ein wenig zurück und sah beifällig zu, wie Alix das aufgeregte Pferd meisterte. Sie sprach zu ihm, klopfte ihm beruhigend den schlanken Hals, hob sich leicht im Sattel und bekam schließlich die Stute so weit, daß sie nahe an dem schaukelnden Birkenzweig, der sie so erschreckt hatte, vorüberging und nur durch beschleunigtes Atmen, das ihr die Nüstern blähte, ihre innere Erregung zeigte.

Alix, deren Gesicht sich während der Anstrengung leicht gerötet hatte, wandte sich im Sattel zurück und sagte plötzlich:

„Sie haben mir übrigens noch kein Wort darüber gesagt, wie Ihnen Ihre neue Stellung gefällt!“

„Nein,“ entgegnete Raimund einigermaßen zerknirscht, „das that ich nicht, und Sie haben es mir selbstverständlich als schreienden Undank ausgelegt!“

„Gar nicht! Sie mußten sich ja erst einarbeiten - zurechtfinden, Ihre Umgebung kennenlernen, ehe Sie sich ein Urteil bilden konnten. Ich habe absichtlich nicht früher danach gefragt.“

„Aber jetzt möchten Sie es wissen?“

„Natürlich möchte ich!“

„Und ich soll die reine, ungeschminkte Wahrheit sagen?“

„Darum bitte ich!“

„Also denn“ – er lenkte sein Pferd, so gut es auf dem schmalen, holperigen Wege gehen wollte, neben das ihre und hielt den Blick auf die Zügel gerichtet, wie wenn er sehr achtsam darauf sein müsse. „Ich kann gegen den Direktor und gegen die andern Beamten, mit denen ich zu thun habe, nichts sagen, sie sind höflich und sogar rücksichtsvoll gegen mich, denn von meinen kaufmännischen Leistungen werden sie schwerlich sehr entzückt sein. Niemand chikaniert mich, aber – –“

„Aber?“ wiederholte Alix lächelnd.

„Aber,“ der junge Mann hob leicht die Achseln, „ich bin eben leider ich – und bleibe es! Ich habe meine Musikleidenschaft von einem Comptoirsessel auf den andern mitgenommen, und da sitze ich nun fest mit ihr, und alle herzliche Dankbarkeit für die mir erwiesene gütige Fürsorge hilft mir darüber nicht weg!“

„Ja,“ sagte Alix gedankenvoll, „das kann ich mir sehr gut denken – wie könnte es eigentlich auch anders sein?“

„Baroneß sind zu gütig –“

„Wo in aller Welt ist dabei meine Güte? Etwas Verständnis für Ihre Situation – das ist alles! Ueberdies wünschte ich, Sie sagten nicht ‚Baroneß‘ zu mir! Das klingt so ungeheuer förmlich, und wir sind doch Verwandte!“

„Gnädiges Fräulein also?“

„Auch nicht! Finden Sie, daß das besser oder weniger ceremoniell klingt? Können Sie mich nicht einfach beim Vornamen nennen?“

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das zu gestatten. Dann würde ich aber Alexandra sagen, denn verstümmelte Namen mag ich nicht!“

„Gut! Und ich nenne Sie Raimund!“

Auch das noch! sagte sich Hagedorn mit einer Art bittern Humors. Wenn ich nicht wüßte, daß all dies freundliche Entgegenkommen nichts wie ein Pflaster auf die Wunde ist, die ich so unvorsichtig war, ihr zu entdecken – ich könnte mir wahrhaftig einiges darauf zu gute thun!

Der Weg wurde jetzt so eng, daß die beiden Pferde nicht mehr nebeneinander bleiben konnten. Hier stand Laub- und Nadelholz wahllos gemischt, die dunkle ernste Tanne neben der weißstämmigen, zierlichen Birke, die blaugrüne Kiefer neben der lichtgrünen Buche, die hochaufgeschossene Lärche, umrahmt von schlanken Eschen. Schon blitzte da und dort zwischen den Baumstämmen der Wasserspiegel auf.

„Hier müssen wir absteigen, Cousine!“ sagte Hagedorn, indem er von seinem Braunen heruntersprang. „Ich darf Ihnen wohl helfen!“

Nicht eine Sekunde länger, als nötig war, hielt er die schmiegsame Mädchengestalt in den Armen, aber doch ging ein heißer Schauer über ihn hin, als er, sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ.

„Halten Sie die Pferde, Tommy!“ sagte Alix, über die Schulter zurückgewendet, zu dem Reitknecht, dann stieg sie an des jungen Mannes Seite vollends die leichte Anhöhe empor.

Sie hatten es nicht weit mehr, aber es war ein beschwerliches Gehen zwischen den hier sehr dicht stehenden Bäumen hindurch. Tief versank der Schritt in dem Blätterlager, das vergangene Herbste aufgehäuft, und dennoch mühte sich die junge Vegetation, auch hier das Alte, das Ueberlebte zu verdrängen und sich siegreich zu behaupten. Junger Graswuchs sammelte sich dicht um die Baumstämme, weiche, tiefgrüne Moospolster breiteten sich über bloßliegendes Wurzelgeflecht. Nun standen sie oben. Sonnenüberschienen lag das Haff; auf seinen sanft gekräuselten Wellen tanzten Goldfunken auf und nieder. Gleich einem weißen hingeschlängelten Band flimmerte drüben die Nehrung, auf der man die kleinen Ortschaften deutlich liegen sah; aus manchen Häuschen stiegen Rauchwölkchen zum klaren Himmel aufwärts. Da und dort schaukelte ein Kahn über die leicht bewegte Wasserfläche, kleine weiße Segel tauchten gleich Schwänen hinauf und hinab, und drunten auf dem schmalen Streifen Strand, zu dem der Wald hier ziemlich steil abfiel, gingen ein paar flachsköpfige Kinder umher und lasen Muscheln und Steinchen auf.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0620.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)