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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

und ich habe kein Recht mehr an ihn. Und da sind auch die beiden Ringe‘ – sie hatte sie noch immer getragen, wie eine Witwe – ,die verkaufe und gieb das Geld den Armen. Und nun – Gute Nacht, und vergiß nicht, was du mir wegen dem Papa versprochen hast.‘

*  *  *

„So ging ich von ihr. Sie werden mich für sehr dumm halten, daß mir gar nichts Unheimliches ahnte. Aber wenn Sie sie gehört hätten – sie sprach so ruhig, als sie mir die Sachen gab, wie wenn nun wirklich alles aus und zu Ende wäre.

„Ach Gott, es war ja auch zu Ende! Am anderen Morgen, als die Magd des Hausherrn in den Hof kam, fand sie das arme Ding auf dem Pflaster liegen mit zerschmettertem Kopf.

„Sehen Sie, lieber Herr, das war die Reise gewesen, von der sie gesprochen hatte, und nun war sie schon an dem Ziel angekommen, wo sie Ruhe zu finden hoffte.

„Es hat aber kein Mensch geahnt, daß sie es mit Absicht so gemacht hatte. Sie war immer sehr fromm gewesen und hatte mir mehr als einmal gesagt, kein Gedanke sei ihr so schrecklich, wie in ungeweihter Erde zu ruhen und kein kirchliches Begräbnis zu erhalten. Daß sie eine große Sünde that, indem sie sich selbst das arme, trübselige Lebenslicht ausblies, darüber brachte sie ihr verzweifelter Gram hinweg. Und sie hat es ganz listig angefangen, auch die anderen zu täuschen. Die Frau, bei der sie wohnte, erzählte, sie sei noch spät zu ihr gekommen, sich ihre krampfstillenden Tropfen auszubitten, es sei ihr so beklommen und schwindlig. Da habe sie sich wahrscheinlich, als sie nicht einschlafen konnte, ans offene Fenster gestellt, um Luft zu schöpfen, und habe das Gleichgewicht verloren und sei hinuntergestürzt.

„Daß es ein bißchen anders dabei zugegangen, reimte sich außer mir wohl noch ein anderer zusammen, der aber hütete sich, auch nur ihren Namen in den Mund zu nehmen.

„So wurde sie denn kirchlich begraben, und es war eine sehr schöne Leich’, und halb Ems folgte ihrem Sarge, bloß einer fehlte, den es am nächsten angegangen hätte, der blinde Papa. Ich war gleich auf die Polizei gelaufen und hatte die Herren himmelhoch gebeten, dem alten Manne das Herzweh zu ersparen, das ihn unfehlbar umbringen mußte. Sie wollten erst nicht, da es ungesetzlich war. Ich stellte ihnen aber vor, es sei noch ungesetzlicher, einem armen Blinden den letzten Faden zu durchschneiden, mit dem er noch am Leben hing, und dann sagt’ ich, er sei ja überhaupt nicht zurechnungsfähig und so ein halber Trottel könne nicht wie ein gesunder Mensch behandelt werden.

„Das schlug endlich durch. Bis an diesen Tag weiß der Alte nicht, daß seine Tochter längst unter dem Rasen liegt.

„Am Sonntag nach ihrem Begräbnis bin ich zu ihm hinausgegangen. Ich hatt’ mir ein Geschichtchen ausgedacht, das ich ihm erzählen wollte, damit er nicht stutzig würde, wenn sie nicht mehr kam. Es ist mir sauer genug geworden, es ohne zu schluchzen vorzubringen. Eine Dame aus Frankfurt a. M., die in dem Laden was eingekauft, habe so großes Gefallen an ihr gefunden, daß sie sie mit nach Hause nehmen wollte, um ihre Kinder zu erziehen. Es sei eine reiche Familie, und sie kriege einen sehr guten Lohn, und deshalb habe der Prinzipal auch eingewilligt, sie auf dem Fleck zu entlassen, um ihrem Glück nicht im Wege zu stehen. Denn sie habe schon am nächsten Morgen mit der neuen Herrschaft abreisen müssen und daher nicht mehr von dem Papa Abschied nehmen können, schicke ihm nur noch einen herzlichen Gruß und werde bald an ihn schreiben.

„Der Alte schien sehr vergnügt, daß es seiner Tochter so gut ginge, und hatte auch keinen Verdacht bei der plötzlichen Abreise. Nach vierzehn Tagen kam ich dann wieder zu ihm und las ihm einen Brief vor, den ich selbst verfaßt hatte, worin das Leben in dem Frankfurter Hause und die Familie selbst, Eltern und Kinder, genau beschrieben waren. Auch darüber war er sehr froh und trug mir wieder Grüße an das Lischen auf. Sogar Geld konnte ich ihm noch von Zeit zu Zeit schicken, angeblich von ihrem ersparten Lohn. Es kam aber von dem Erlös ihrer Möbel und Siebensachen und wird noch eine Weile reichen.

„Seit ich nun verheiratet bin, komme ich nur noch unter der Woche hinaus, am Sonntag machen wir einen Ausflug oder Spaziergang, darauf hält mein Fritz. Manchmal vergehen drei Wochen, bis ich die Zeit finde, aber der Alte denkt sich nichts dabei, als daß seine Tochter eben nicht früher geschrieben habe. So will ich auch jetzt einmal wieder nach ihm sehen, und Sie können ihn beobachten, wie gläubig und zufrieden er meine unschuldige Flunkerei hinnimmt.

„Sehen Sie ihn da stehen, immer an demselben Fleck, an seinen Meilenstein gelehnt? Er hat jetzt einen besseren Rock, der alte fiel in Fetzen. Ich habe ihm gesagt, das Lischen bestehe darauf, daß er sich anständiger kleide, und alles, was von ihr kommt, ist ihm heilig.“

Wir waren jetzt nahe zu dem Blinden herangekommen. Er hatte sich seit vorigem Jahr wenig verändert, das Haar war nur noch grauer, die Furchen unter den Augen und am Munde etwas schärfer geworden.

„Guten Abend, Herr Sekretär!“ sagte meine Begleiterin. „Wie ist’s Ihnen ergangen seit dem letzten Mal? Immer noch das böse Reißen in den Beinen? Sie sollten doch den Doktor befragen und vor allem einmal eine Woche zu Hause bleiben im warmen Bett.“

Der alte Mann zog die Brauen finster zusammen und schüttelte den Kopf. Noch auf einige andere freundliche Reden gab er nur mit ärgerlichem Knurren Antwort, sein Gesicht erheiterte sich erst, als Frau Rikchen ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche zog und ihm daraus vorlas, was angeblich sein Kind geschrieben hatte: es gehe ihr immer gleich gut, sie lasse den Papa grüßen und hoffe, ihn auch einmal besuchen zu können. Jetzt lasse ihre Herrschaft sie noch nicht fort, die Kinder hingen so an ihr.

Der Alte lachte mit einem seltsamen Ausdruck vor sich hin, wie wenn er sagen wollte: Kein Wunder! An meinem Lischen hängen alle guten Menschen! – dann streckte er die Hand nach dem Papier aus, befühlte es von allen Seiten und drückte es endlich an den Mund.

Die junge Frau wischte sich die Augen und nickte mir zu. „Da ist ein Herr mit mir gekommen,“ sagte sie, „der hat Ihre Tochter in Frankfurt kennengelernt, Herr Sekretär, und sie hat ihm noch mündliche Grüße an Sie aufgetragen. Nicht wahr, Herr?“

Sie machte mir Zeichen, daß ich nicht stumm bleiben solle. „Ja, Herr Sekretär,“ sagte ich etwas beklommen, „ich kann alles bestätigen. Ihre Tochter ist wohl aufgehoben, da, wo sie ist, es kann ihr nichts Böses geschehen, und gewiß denkt sie an ihren lieben alten Vater und würde ihn gern besuchen, wenn man sie fortließe. Sie können ihretwegen ganz ruhig sein.“

Der Alte grinste wieder, bewegte mühsam den breiten Mund mit der hängenden Unterlippe und sagte mit einer rauhen, ganz eingerosteten Stimme: „Danke! danke schön!“ Dann verfiel er wieder in sein stumpfes Brüten.

Wir nahmen Abschied von ihm, und wie wir eine Strecke weit von ihm entfernt waren, sagte die junge Frau: „Wird uns unser Herrgott die Lüge nicht verzeihen, die den armen Alten nun wieder auf vierzehn Tage glücklich macht? Glücklicher gewiß als den schlechten Menschen, der ihn um sein Kind gebracht hat, die harten Thaler seiner Frau. Sie müssen wissen, das Ehepaar hat sich in Ems niederlassen wollen, aber niemand ging mit ihnen um, man verachtete ihn zu sehr, da doch nach und nach seine Schurkerei gegen das Lischen unter die Leute kam. Dann verzogen sie noch vor Schluß der Saison nach Wiesbaden; auch dahin folgte ihnen der schlechte Leumund, und um Weihnachten hört’ ich, sie seien übers Meer gezogen, nach Amerika. Aber seiner Strafe konnte er doch nicht entfliehen, die zog mit ihm, in Gestalt seines Weibes, das ihn quält mit ihrem Geiz und ihm aus Eifersucht die Hölle auf Erden schafft. O, das Lischen hatte einen prophetischen Geist! Entsinnen Sie sich noch ihres Liedes, worin es immer hieß:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Das ist nun früher, als sie dachte, in Erfüllung gegangen!“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0638.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2023)