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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Wieder war rings die Einsamkeit der Steppe. Aber da und dort lohten aus ihr die Wachtfeuer der Hirten, blitzten, fast aus den Wolken heraus, die Lichtpunkte hochgelegener Bergdörfer und huschten Schattengestalten lautlos durch die Nacht dahin. Die Nähe der großen Maurenstadt machte sich bemerklich.

In einer halben Stunde war man am Ziel! Bei dem Gedanken daran pochte das Herz des nächtlichen Reiters und eine Art Krampf zog plötzlich einschnürend seine Brust zusammen. Zu dumm … dies Abenteuer mit dem Stier! Nun, bis morgen war das gut! Sein Blick wurde finster, und als trage ihn das erschöpfte Pferd noch nicht rasch genug dem Schicksal entgegen, stieß er ihm ungeduldig die Sporen in die Flanken.

Das Schicksal! Das spielt nicht mit uns, wie die gemeine Weisheit lautet, ach nein: wir selbst sind ja unser Schicksal. Wie wir sind, so bleiben wir ein langes Leben lang, was wir thun, das müssen wir thun! Was wir leiden, das müssen wir leiden!

Was hilft das Klagen, wo der Lebenslauf so fest, so unabänderlich mit seinem Maß von Glück und Unglück einem jeden vorgeschrieben ist? Und ist der Lebenslauf kraus und wild, führt er durch alle Länder und Meere, durch alle Höhen und Tiefen in rastlos suchender Abenteurerlust, was hilft das Klagen? Es ist eben etwas mehr Leiden darin, Not, Mühsal und Entbehrung, und etwas mehr jener Freuden, die trotziges Siegerbewußtsein verleiht – schließlich gleicht sich doch alles wieder aus und wird zur großen Null auf dem Grabstein. Und wenn auf ihm die Worte des Dichters stehen:

„Dies Herze sehnt’ sich oft
ach nirgends hin und überall doch hin!“

so ist ihm nun die Ruhe …

*  *  *

In vollem Glanz schien jetzt der Mond, nur ab und zu von vorüberflutenden Wolkentrümmern verfinstert. Dann herrschte plötzlich tiefes Dunkel und ebenso rasch stieg, wenn die Sichel wieder aus dem Dunst hervorschwamm, von ihrem bläulichen Schein umschleiert und erhellt, das blendendweiße Häusermeer von Tetuan am Abhang des Berges empor. Ein Gewimmel platter Dächer, von schlanken Minarets überragt, die zerfallene Burg hoch darüber und alles von einem finsteren, altersgrauen Mauerring umschlossen – so träumte die orientalische Stadt im Mondschein. In weitem Halbkreis standen die zerrissenen Berge, ganz in der Ferne mit Schnee- und Firnglanz übergossen, und auf der anderen Seite, wo die Ebene sich öffnete, strahlte, ein silberner Streifen, das Mittelmeer herüber.

Sie mußten langsam reiten. Der Boden war mit spitzem Steingeröll bedeckt, und überall sprudelte es zwischen den Felsblöcken, den Aloëstauden und stacheligen Agavenhecken von unsichtbaren Wassern. Kaum merklich kamen die Reiter der reglos schlummernden, totenstillen weißen Stadt näher und bogen endlich in den Mondscheinschatten ihrer Außenmauer ein.

Die wilden Hunde kläfften auf, während der Trupp an dem alten bröckligen Gestein entlang trabte. Die Stadt dahinter war wie ausgestorben. Kein Laut, kein Lebenszeichen klang heraus.

Aber als sie um einen Winkelturm der Umwallung bogen, fuhr ihnen jäh ein starker Windstoß entgegen und auf seinen Schwingen ein Tollhaus von Tönen, ein Geschrei, Gemecker, Gewieher und Geplärr in wildem Durcheinander.

Vor dem fest verrammelten und verschlossenen Stadtthor staute sich allerhand Volk, das erst nach Sonnenuntergang gekommen und nicht mehr eingelassen worden war, Hirten, Händler und Käufer, wie sie der Donnerstag, der allwöchentliche große Markttag, rings vom Lande her nach Tetuan trieb. Sie alle kampierten da zähneklappernd im Freien, eng mit Kindern, Gesinde und Haustieren zusammengeduckt, ein Durcheinander von Negerwollschädeln und kahlen Kabylenköpfen, von flintenüberragten Hammelherden, von buntfarbigen Turbanen zwischen langen Esel- und Maultierohren, breitkrämpigen Frauenhüten, Pferdehäuptern, Ziegenbärten, Körben voll kleiner Kinder an den Flanken kauernder Kamele, die ganze Arche Noah von hellem Mondschein übergossen, in Lärm und Gezänk den Tag erwartend, trotzdem man sich doch schon längst heiser gebrüllt hatte und wußte, daß die innen schnarchenden Thorwächter gegen alles Schreien und Rufen taub blieben. Es fiel keinem von ihnen ein, auch nur den Kopf herauszustrecken. Nur zwei Kanonen gähnten rechts und links von dem Stadtthor mit schwarzen Schlünden in die Nacht hinaus, und dazwischen verschlangen sich über der Wölbung die eingemeißelten Schnörkel eines Koranspruches.

„Da oben zwischen den Kanonen steht’s geschrieben!“ sagte plötzlich jemand aus der grollenden schwarz verschwommenen Masse heraus mit deutschen Worten: „… ,Es ist kein Schutz und Hilfe außer bei Allah!‘ Ich werde nächstens auch Mohammedaner!“

„Ja, wenn’s was hülfe!“ brummte eine andere tiefe Stimme. „Die ganze Menagerie hier glaubt an Allah und muß doch im Freien übernachten wie wir!“

„Und Sie sind allein dran schuld … mit Ihrem Bärentrotz wie gewöhnlich! Erklären: wir brauchen keine Soldaten zur Begleitung! Was uns an Räubern anfällt, das nehme ich allein auf mich! Und nun sitzen wir da und Frau Angela hat allen Grund, daß sie seit einer Stunde kein Wort mit uns spricht!“

Statt aller Antwort tönte von irgendwoher aus dem Dunkel ein silberhelles Kinderlachen. Der heranreitende Fremde fuhr bei dem unerwarteten, fast unheimlichen Klang im Sattel empor und lenkte mit jähem Ruck sein Roß der Stelle zu. Aber im selben Moment feuerte der Araber neben ihm seine Flinte, die er aufrecht vor sich auf den Pferdehals gestellt hatte, zum Himmel los, als einfachstes Mittel, den schlafenden Wächtern drinnen das Nahen eines Regierungssoldaten zu verkünden.

Im Augenblick, wo das altmodische Feuerrohr sich mit scharfem Knall entlud, war alles ringsumher lebendig. Die Eselein, die sorgenbeladen mit gesenkten Ohren dastanden, stießen ein durchdringendes sägendes Jammergeschrei aus, die Pferde stiegen aufgeregt in die Höhe, die Maultiere schlugen rechts und links nach der aufspringenden Menschheit, Hammel und Ziegen flohen mit Angstgemecker, und neben den Körben mit schreienden Kindern richteten sich dunkle Klumpen, die bisher still wie Felsblöcke dagelegen, mit drei seltsamen Rucken auf, wurden zu Kamelen und stierten feierlich und blödsinnig über das vom Mond beschienene Gewühl.

Wenigstens hatte der Schuß gewirkt. Oben auf dem Mauerkranz erschienen die Umrisse von Turbanen und Flinten und ein wildkrächzendes Gespräch flog hin und her. In dem allgemeinen Tumult, dem Meckern, Blöken, Wiehern, Hundegekläff und Yageschrei war es kaum möglich, sich zu verstehen, obwohl die braunen Gesellen oben und unten mit Aufgebot ihrer ganzen Lungenkraft brüllten. Und zum Ueberfluß verschwand jetzt eben der Mond auf Nimmerwiedersehen hinter einer dicken Wolkenwand. Tiefe Dunkelheit trat ein und vermehrte das Chaos.

„So halten Sie doch Ihr Pferd!“ rief die helle Silberstimme aus der Finsternis. „Sie drängen mich ja in die Kamele hinein! Das Vieh schreit gerade über meinem Kopf. Ich habe keine Lust, umgetrampelt zu werden!“

Ein hünenhafter Mensch kam daraufhin, schwer mit seinem Roß kämpfend, als eine Schattengestalt nach vorn. „Ich weiß nicht, was das ist!“ fluchte er. „Es sticht jemand gegen den Gaul und meine Beine. Wart’, du verdammter Kerl!“ Er führte, sich im Sattel biegend, mit der Reitpeitsche einen wütenden Hieb nach unten. Dort blökte es unter dem Klatsche kläglich auf und ein verirrter Hammel, dessen langgedrehte Hörner das Unheil angerichtet, suchte eiligst das Weite.

„Wo seid Ihr denn?“ schrie der Begleiter des Recken aus der Ferne. „Ich schwimme hier zwischen lauter Eseln und Ziegen, und halte mich an einem Kuhhorn fest. Gott weiß, wohin die Reise geht!“

„Hierher, Franklin!“ rief es hell dagegen. „Wo die Kamele sind ...“

„Ja … Da gehören wir weiß Gott hin!“ tönte es von drüben. „Lieber doch eine Klubhütte als solche Abenteuer. Was machen wir denn nun?“

„Wir warten, bis die Bande ruhig ist!“

„Ach, die schreien bis zum jüngsten Tag!“ knurrte der andere. Aber schon schien inmitten des heillosen Lärms die Verständigung gelungen. „Der Pascha schläft,“ meldete irgendwo aus dem Dunkel her die Stimme eines Mauren in greulichem Englisch. „Man geht und holt bei ihm den Schlüssel! Mit dem Schlüssel wird man das Thor aufsperren.“

In Erwartung des großen Ereignisses war eine verhältnismäßige Ruhe eingetreten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0652.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2021)