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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Und dabei sah sie mich an mit ihren glänzenden braunen Augen, mit ihrem lachenden Munde, so amüsiert, so gut unterhalten, daß ich mir wirklich etwas auf meine geistreiche Plauderei einzubilden begann und immer kühner ins Zeug ging. Ich machte aus dem Lehrer schließlich einen wahren Popanz, nur um immer wieder dieses Lachen um Augen und Mund hervorzuzaubern, was kein anderer Gesprächsgegenstand vermochte. Wohl traf mich bisweilen warnend ein staunender Blick aus Tobys runden ehrlichen Augen; in mir aber jubelte es: „Dies ist das Abenteuer, dies ist das Abenteuer!“

Wir saßen zusammen im Stettiner Wartesaal und aßen zu Mittag, d. h. Toby und ich ein Paar warme Würstchen; ich half ihr beim Ein- und Aussteigen; ich holte ihr eine Tasse Kaffee, ja ich wagte es, ihr eine Tafel Chokolade zu überreichen, die ich mit meinem letzten Zehnpfennigstück einem Automaten entlockt hatte. Ich trug ihr Handgepäck beim Umsteigen, ich legte ihr das Plaid um die Schultern, und als ich den Dr. X. vollständig parzelliert hatte, tauschten wir Gedanken über Litteratur und Kunst aus, und da ich gerade, dank diesem Dr. X., darin wirklich ein paar Gedanken entwickeln konnte, so nahm die Unterhaltung einen immer höheren Schwung.

Die Stationen glitten an mir vorüber wie Perlen an einer Schnur; die Stunden flohen dahin wie Minuten; mir bangte, mir graute vor dem Ende der Reise, vor dem Erwachen aus diesem Glücks- und Eitelkeitsrausch.

Und als wir uns Danzig näherten, da reichte mein Ideal mir die Hand und sagte: „Hoffentlich begegnen wir uns wieder einmal. Sie haben mich wirklich sehr gut unterhalten.“ Und ich neigte mich über ihren Handschuh und – Tobys Augen wurden immer runder, denn das Handküssen gehörte nicht zu den Gepflogenheiten in unserm Kreise – preßte einen glühenden Kuß darauf! Dann sah ich ihr tief in die schimmernden braunen Augen, durchbebt von dem Gefühl der ersten Jugendliebe. Da hielt der Zug; die Thür wurde aufgerissen und des von mir so viel geschmähten Oberlehrers bärtiges Gesicht erschien im Rahmen derselben – meine Jugendliebe warf sich ihm in seine Arme – sie war seine Braut.

Was ich nach diesem Abenteuer für eine Nacht verbrachte, mit was für Gefühlen ich am folgenden Morgen dem Dr. X. unter die Augen trat, das fragt den Toby! Wenn ich den kleinen dummen Bruder in der Nacht nicht bei mir gehabt hätte, ich hätte weglaufen oder mir das Leben nehmen können.

Wir gingen all den Unsinn durch, den ich gesprochen, Toby hatte ja voll Staunen jedem Worte gelauscht. „I wo wird sie ihm alles wiedererzählen!“ tröstete er; „sie wird ihm nur das erzählen, was ihm Spaß machen könnte. Dazu war sie zu nett zu dir, das thut sie dir nicht an!“ Und als wir bis zum Morgen in Aufregung hin und her geredet, da wendete er sich schlaftrunken nach der Wand mit dem Wort, das mir Fassung und Mut wiedergab: „Ueberdies weiß sie ja gar nicht, wie wir heißen, und er kann uns gar nicht erkannt haben in dem Augenblick.“

Aber noch monatelang quälte mich in seinen Stunden der Zweifel: weiß er es, oder weiß er es nicht! Ich habe mich seitdem nie mehr nach Abenteuern gesehnt. Ich eignete mich nicht dazu. Und zum Renommieren hatte ich auch kein Talent.



Blätter und Blüthen.

Merkwürdige Kalender. (Mit Abbildungen.) Der Kalender ist noch in der Gegenwart dasjenige Buch, welches sich auch der litterarisch anspruchsloseste Mann alljährlich anschafft oder schenken läßt. In der Vergangenheit war der Kreis jener, die sich mit dem Kalender begnügten, sicher noch ein ungleich größerer als heutzutage, die Leute waren im Kalenderwesen auch viel mehr bewandert und hatten in dieser Beziehung Kenntnisse, die der jetzigen Generation so ziemlich mangeln. Aus diesem Grunde hatten auch die ältesten gedruckten Wandkalender, welche bald nach Einführung der Buchdruckerkunst ausgeführt wurden, nicht ein Verzeichnis der einzelnen Tage des ganzen Jahres, sondern nur die goldene Zahl der Sonntagsbuchstaben, die Epakten etc., mit deren Hilfe sich die kalenderkundigen Leute die beweglichen Feste dann selbst ausrechneten.

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Kalendermünze aus dem Jahre 1694.

Auch noch in späterer Zeit verfuhr man so, wenn der Mangel an Raum hierzu nötigte. Dies war vor allem bei den Taschenkalendern der Fall, die man auf ein Elfenbeintäfelchen schrieb, das in einem Futteral aus dem gleichen Material steckte, oder auch in Erz in Form einer großen Münze goß und wohl auch aus Silber fertigte, das reich graviert war. Die in Bronze gegossenen waren natürlich die dauerhaftesten. Ein uns vorliegender, der obenstehend abgebildete, umfaßt die Jahre 1694 bis 1760, die in Tabellenform angeführt sind. Unten stehen die Sonntagsbuchstaben, oben finden sich die Wochentage durch die Zeichen der Planeten dargestellt. In den vier Kreisabschnitten sind immer drei Monate und die Angabe verzeichnet, an welchen Tagen die Sonne in die Zeichen des Tierkreises eintritt. Auf der Rückseite sind, von außen nach innen gerechnet, verzeichnet die zwölf Monate des Jahres, die unbeweglichen Fest- und Feiertage, die Tageslängen, der Sonnenaufgang, die Nachtlängen und der Sonnenuntergang. Das mittlere Quadrat aber enthält die Monate und die Monatstage. Darunter steht 1694, das Jahr der Anfertigung, darüber „Gotha“, jedenfalls der Ort, in dem der Kalender gefertigt wurde.

Es mußte einer schon recht kalenderfest sein, um diese sonst sehr handlichen Kalendarien benutzen zu können. In unserem raschlebigen Jahrhundert hat man natürlich keine Zeit, sich das zu Wissende mühsam auszurechnen. Doch auch früher gab es schon Leute, denen das zu umständlich war und die mit einem gewöhnlichen Kalender auch vorlieb nahmen. Die tapferen Krieger aber halfen sich anders. Sie ließen den ganzen Kalender auf ihre Schwertklinge ätzen, je sechs Monate auf eine Seite. Eine schöne derartige Klinge des 16. Jahrhunderts im Germanischen Museum zu Nürnberg, deren oberen Teil wir untenstehend abbilden, weist in reizender Aetzung unter den Zeichen des Tierkreises und dem lateinischen und deutschen Namen jedes Monats die einzelnen Tage und die Schutzheiligen derselben für das ganze Jahr auf. Solche Schwerter führten jedoch nur die Vornehmen, der gemeine Mann bloß dann, wenn ihm ein solches als willkommene Beute zufiel. Die Kalenderklingen wurden besonders hoch geschätzt, man schrieb ihnen während des Dreißigjährigen Krieges, wohl auch vor- und nachher, sogar geheime Kräfte zu. Simplicissimus schenkte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0706.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)