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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Gabe anfleht, bloß um der Gefahr auszuweichen, einen wahrhaft Dürftigen nicht unterstützt zu haben. Uebrigens, wenn das mein Thun in Ihren Augen entschuldigt, habe ich ja auch ein persönliches Interesse daran, dem armen Kind ein Almosen zu geben. Als ich das blasse abgehärmte Gesichtchen sah, die Wangengrübchen, aus denen noch ein Fünkchen Freude zu sprühen scheint, und dann die klagenden Augen, die von frühem Kummer zeugen, da fiel mir mein totes blondes Käthchen ein, das wie ein flüchtiger Frühlingssonnenstrahl durchs Leben huschte. Mein Liebling ist dahin und aller Jammer und alle Klagen können die arme Kleine mir nicht wiederbringen! Aber immer und immer lebt ihr Andenken heller in mir auf, wenn mir ein Kind entgegentritt im gleichen Alter wie sie. Und da hat mich doppelt schmerzlich der Gedanke ergriffen, wie weh es thun muß, ein solches Wesen zu besitzen und es nicht hegen und pflegen zu können mit aller Sorgfalt und Zärtlichkeit. Die zarte Menschenblüte verfolgt und gemartert zu sehen von den grimmigsten Feinden des Lebens: von Hunger, Frost und Elend! Und wir stehen dabei und lassen es geschehen! Die Gewöhnung hat uns so stumpfsinnig gemacht, daß uns der Anblick solchen Elends nicht einmal in unserem Behagen stört, daß das Lächeln auf unseren Lippen nicht erstirbt, das Auge nichts von seinem heiteren Glanz verliert, wenn es in ergreifendster und rührendster Gestalt vor uns hintritt! Ich begreife Ihre kühle Zweifelsucht nicht, denn ich halte Sie, Herr Walter, auch edler Regungen für fähig.“

„Danke für die gütige Meinung,“ antwortete der Nachbar, indem er sich lächelnd verbeugte.

„Sie würden sich nicht lange überlegen, ins Wasser zu springen, wenn Sie damit, selbst mit eigener Gefahr, einem Mitmenschen das Leben retten könnten. Und dabei würden Sie gar nicht fragen, ob der Gegenstand Ihres Mitleids desselben würdig oder ob er ein Trunkenbold und Taugenichts ist.“

„Verzeihen Sie, meine Gnädige,“ unterbrach sie Herr Walter, „aber zu diesen Untersuchungen hätte ich in dem gegebenen Falle wohl kaum die Zeit.“

„Ganz richtig,“ antwortete die Dame, „und darum thun Sie ungeprüft und instinktiv Ihre Menschenpflicht. Das unmittelbare Verderben Ihres Mitmenschen können Sie nicht sehen, ohne helfend beizuspringen; aber das viel ärgere chronische Siechtum der Not und des Elends rührt Sie nicht. Wo Sie nicht Zeit haben, sich von der Würdigkeit zu überzeugen, da helfen Sie, und wo Sie Zeit haben, dies mit aller Vorsicht zu thun, da verdammen Sie – aus Gewohnheit, aus Trägheit, aus Eigenliebe. Es kann ja ein anderer helfen; es sind ihrer zu viele, die mit den Wogen kämpfen, es sind auch solche darunter, die noch schwimmen können!“

„Dieses überfeinerte Empfinden für das Leid Ihrer Mitmenschen macht gewiß Ihrem Herzen Ehre, meine Gnädige,“ erwiderte Herr Walter; „aber wer sich stets das tausendfache Weh der Menschheit so lebhaft vor die Seele stellt, der vergiftet sich jeden Augenblick der Freude und macht sich selbst so elend wie diejenigen, die er bemitleidet. Ihr empfängliches Gemüt leidet unter solchen Vorstellungen mehr als der Gegenstand Ihres Mitleids; denn dieser ist meistens durch Gewohnheit stumpf und durch das tägliche Ringen mit der Not gegen diese abgehärtet. Ich wette mit Ihnen: wenn wir das Kind befragen, wird es uns dieselbe Geschichte erzählen, die ich schon hundertmal gehört: der Vater liegt seit Monaten krank, die Mutter geht ins Waschen; zu Hause vier oder fünf kleine Kinder, darunter ein Krüppel; der Hausherr hat ihnen die Wohnung gekündigt und die Möbel sind gepfändet!“

In diesem Augenblicke ging das Kind, welches den Anlaß zu dem Meinungsaustausch gegeben hatte, dem Ausgange zu und wurde, als es an dem Tische vorüberkam, von Herrn Walter angeredet: „Heda, Kleine, komm ein bißchen her!“

„Planeten g’fällig, mit der Zukunft und drei Numero, bitt’, kaufen S’mir an’ Planeten a’, daß i’ was verdien’,“ sagte das Kind, gedankenlos seine Formel ableiernd.

„Da!“ sagte Herr Walter und gab ihr ein Geldstück. „Behalte deine Planeten, aber sage mir, wer sind denn deine Eltern?“

„Der Vater is a Drechsler,“ antwortete die Kleine; „aber er is schon seit sechs Monat krank!“

„Was fehlt ihm denn?“

„Brustkrank is er.“

„Und die Mutter?“

„Die geht ins Waschen.“

Herr Walter streifte seine Nachbarin mit einem triumphierenden Blick. „Wie viel Geschwister seid ihr denn?“ fuhr er dann in seinem Verhöre fort.

„Drei. Die Agnes is erst a Jahr alt und der Pepi sechs Jahr’. Er liegt aber im Bett, weil er net gehn und net reden kann.“

„Das stimmt ja auffallend,“ sagte Herr Walter. „Ich hoffe, Sie haben sich jetzt selbst überzeugt,“ wandte er sich an seine Nachbarin. „Und wo wohnt ihr denn?“

„Im Ratzenstadl; aber mir müassen ausziag’n, der Hausherr hat uns aufg’sagt.“

„Na also, das auch noch! Ich denke, Sie sind jetzt bekehrt,“ sagte Herr Walter lachend zu seiner Nachbarin.

Diese zog statt einer Antwort die Kleine an sich, strich ihr die Haare aus der Stirne und blickte ihr lange mit thränenfeuchten Augen in das blasse Gesichtchen. „Du bist ja auch ein Käthchen,“ flüsterte sie dem Kinde zu; „du sollst nicht mehr hungern; ich werde zu euch kommen.“

Erstaunt blickte die Kleine in das Antlitz der schönen Frau, die so sanft und liebevoll zu ihr sprach, und sagte: „I haß’ net Käthchen; i haß Mariedl und mei Muatter nennt mi Mizerl.“

Als sich das Kind, nachdem es seine Adresse genannt, entfernt hatte, fragte Herr Walter: „Nun, was sagen Sie jetzt?“

„Ich sage,“ antwortete die Dame, „daß die Geschichte wahr ist, trotz Ihrer merkwürdigen Prophetengabe.“

„Unverbesserlich!“ sagte lachend Herr Walter.


2.

Acht Tage später. In einem überaus dürftig ausgestatteten Gemach, dessen kahle Wände nichts umschließen als ein paar Strohsäcke, einen Tisch, ein paar Stühle und ein kleines eisernes Oefchen, liegt auf einem der Strohsäcke ein Mann von ungefähr vierzig Jahren. Sein abgezehrter Leib, die tief liegenden unheimlich glänzenden Augen, der hohle Husten, der von Zeit zu Zeit die Brust krampfhaft erschüttert, zeugen von den verheerenden Wirkungen der furchtbaren Krankheit, die alljährlich ungezählte Opfer dahinrafft. An dem Tische sitzt sein Weib, den Kopf sorgenvoll auf beide Hände gestützt. Zwei Kinder schlummern auf elenden Lumpen in der Ecke des Zimmers, die dem erloschenen Ofen am nächsten ist. Niemand unterbricht das bange Schweigen. Was hätten sie sich auch zu sagen? Das Kapitel des Elends war schon längst von ihnen abgehandelt, die Hoffnung erloschen, die Klagen verstummt. Sie hatten jahrelang jedem Tage für sich und die Ihrigen des Lebens Notdurft abgerungen, so lange ihre Hände die Kraft dazu hatten. Als der Mann noch seiner Arbeit nachgehen konnte, gab es keinen Mangel, und obwohl sie stets von der Hand in den Mund gelebt hatten, war ihnen doch die Sorge um die Zukunft fremd. Sie empfanden es als nichts Schreckliches, dasselbe Los zu tragen wie die Tausende ihres Standes. Und auch die Furcht vor Krankheit, der ärgsten Heimsuchung des kleinen Mannes, kannten sie nicht. Das Recht zum Leben muß ja in jeder Woche aufs neue erstritten werden. Wohin kämen aber die Tausende, wenn sie sich ihren Lebensmut durch bange Sorgen um die Zukunft lähmen ließen? Die tägliche Arbeit nimmt ihr ganzes Denken und Sinnen in Anspruch und wenn dann doch das Verhängnis hereinbricht, so müssen sie es tragen wie all die vielen vor ihnen, die am Wege zusammengebrochen sind.

Nachdem der Kranke einen krampfhaften Hustenanfall überstanden hatte, sagte er, mehr für sich selbst sprechend, als um gehört zu werden: „Wär’s net am schönsten, wann wir alle miteinander einschlafen könnten und nimmer aufwacheten? Wär’ alles gut und a Ruh’ und a Frieden und ka Kummer. Ka Kält’n, ka Hunger, ka Sorg’ um’n Hausherrn sein’ Zins, ka Jammer, was aus die Kinder wird, wann mir nimmer san. Ma brauchet nur ’n Schuber von der Ofenröhr’n zuz’machen und sich hinz’leg’n und auf’n Erlöser z’warten.“

Die Frau sah zu ihrem Manne auf mit einem Blicke des Entsetzens. „Mann, was führst denn du für gottlose Reden! (5s geht mir durch Mark und Bein, wann du so red’st. Frevel’ net so, sonst ziagt der liebe Gott sei Hand noch ganz von uns ab!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0795.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)