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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Nach einiger Zeit erhob sich der Mann von seinem Lager, horchte auf die gleichmäßigen Atemzüge seines Weibes, saß einige Minuten mit gefalteten Händen, wie im stillen Gebet, und ging dann von einem Kinde zum andern, jedes auf die Stirne küssend.

„Es muß sein, es muß sein,“ murmelte er, schwer aufseufzend, und schlich zum Ofen, in dem die Glut schon halb verglommen war. Er legte den Rest der Kohlen darauf, fachte das Feuer von neuem an und verschloß sodann die Klappe der Ofenröhre.

Still und ergeben hockte er sich hierauf in der Nähe des Ofens nieder und erwartete in dumpfem Brüten das Ende. – –

Mizerl hatte nicht umsonst ihre Phantasie mit den heiteren Bildern des Weihnachtsfestes angefüllt; der Traumgott spann sie weiter und gaukelte ihr Herrlichkeiten vor, die nur die märchenfreudige Gedankenwelt der Kindesseele zu schaffen vermag. Anfangs sah sie noch alle Schätze, von denen sie zu ihrem Brüderchen gesprochen. Ein Tannenbaum stand in ihrer armseligen Stube mit goldnen Aepfeln und Nüssen und brennenden Lichtern. Doch der Tannenbaum verbreitete einen starken betäubenden Harzgernch und der Duft der Wachskerzen beklemmte ihr den Atem. Immer kleiner brannten die Kerzen in dem Qualm und Brodem, den der Tannenbaum auszuströmen schien, und immer beängstigender legte es sich auf die Brust des Kindes, die Lichter erschienen nur mehr wie kleine blutrote Pünktchen in dem Nebel, der all die schönen Dinge umschleierte. Da faßte eine stille sanfte Frau mit blonden Haaren sie an der Hand und sagte: „Komm, mein Kind; dein Christbaum erlischt ja. Ich führe dich zu einem schöneren.“ Und während die Frau so sprach und sie durch enge finstere Gänge führte, da erkannte sie in ihr die Dame, die ihr vor kurzem im Wirtshause so liebevoll begegnet war. Sie schmiegte sich an die gütige Frau an; denn es wurde ihr immer banger und ängstlicher zu Mute. Sie stiegen eine endlose Treppe empor, die steiler und steiler und enger wurde, und endlich konnte sie nicht mehr vorwärts; denn die Wände schlossen sich rings um sie. Sie rang nach Atem und wollte schreien, brachte aber keinen Laut aus der Kehle. „Nur mutig vorwärts, noch einen Schritt und du hast’s überstanden!“ rief ihre Führerin ihr zu. Und plötzlich sah sie in einen herrlichen Raum, der von einer überirdischen Helle durchleuchtet war. Der Glanz strahlte von einem wunderbaren Christbaum aus, so groß wie die höchste Tanne des Waldes und reich beladen mit den kostbarsten Dingen. Um ihn lagen Spielsachen, die sie noch nie geschaut. Das Merkwürdigste aber war, daß diese Spielsachen alle lebten. Die schönen Puppen in herrlichen Seidengewändern gingen freundlich lächelnd auf sie zu und sprachen mit dünnen Silberstimmchen liebevoll zu ihr. Aus der Schachtel sprangen die Reiter, schwangen sich auf ihre winzigen Pferdchen und tummelten sich durch den Saal. Und die Engel schwebten um den Christbaum auf und nieder und sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ Und es flimmerte und leuchtete im blendenden Schein und alle Gestalten bewegten sich immer schneller und schneller im wirbelnden Reigen und sie selber fühlte sich so leicht und froh, daß sie sich in die Lüfte erhob und immer höher und höher stieg, dem Lichte zu, das im unendlichen Raume ausgegossen war. Und es war ihr, als ob sie selbst zerflatterte in eitel Licht und Funken. – –

Ein scharfer Luftzug wehte plötzlich um ihr Gesicht und sie hörte wie aus weiter Ferne eine Stimme, die in traurigem Tone sprach: „Alles vergebens. Dort ist jede Hilfe umsonst. Das größere Mädchen aber atmet. Es lag zum Glück in der Nähe des Fensters. Vielleicht können wir es noch retten.“ – Sie öffnete die Augen und sah in der Stube eine große Anzahl Menschen, die verstört und händeringend dastanden. Sie begriff von alledem nichts und fühlte nur eine große Kälte; denn die Fenster waren angelweit geöffnet und der kalte Luftstrom drang herein. Sie schloß die Augen und flüsterte lächelnd: „Ich will fliegen, fliegen!“ Dann schwanden ihr die Sinne.


3.

Frau Hilbert, die blonde Dame, welche der kleinen Mizerl so viel Mitleid gezeigt, saß mit ihrem Manne beim Morgenkaffee. Dieser las die Zeitung und berichtete seiner Gattin ab und zu die Neuigkeiten, die ihm geeignet schienen, sie zu interessieren. „Da ist wieder ein schauerliches Unglück durch Ausströmen von Kohlenoxydgas geschehen,“ fuhr er dann fort. „In einem Hause der Magdalenenstraße wurde der Drechsler Anton Friedl mit seiner Frau und zwei Kindern gestern morgens tot aufgefunden. Nur die fünfjährige Mizerl, die in der Nähe des schlecht verwahrten Fensters lag, konnte gerettet werden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hier Mord und Selbstmord vorliegen. Der schwer kranke Mann befand sich seit längerer Zeit mit seiner Familie in verzweifelten Verhältnissen. Dies und der Umstand, daß man den Vater in der Nähe des Ofens zusammengekauert fand, lassen die Annahme einer absichtlichen Tötung fast sicher erscheinen.“

Frau Hilbert war während dieses Berichtes bleich geworden und zitterte am ganzen Körper. „Mizerl Friedl, sagst du, in der Magdalenenstraße?“ stieß sie heftig hervor. „Gütiger Gott, das ist ja das kleine Wesen, das unserem Käthchen so ähnlich sieht! Erinnerst du dich? Ich habe ihm meinen Schutz zugesagt. Und nun ist es zu spät. Zu spät!“ fuhr sie fort und Thränen traten ihr in die Angen. „Und daran ist meine sträfliche Nachlässigkeit schuld. Ich nahm mir’s vor, jeden Tag, die Familie aufzusuchen, und die nichtigsten Kleinigkeiten, die eitelsten Dinge hielten mich immer wieder davon ab. Und wie habe ich mich ereifert, wie fühlte ich mich gehoben von meinen Phrasen von Mitleid und Menschenliebe, wie redete ich mich in heiligen Zorn gegen diesen Walter! Worte, nichts als Worte! O, es ist erbärmlich von mir; ich kann mir’s nicht verzeihen, daß ich den Tod dieser Leute mitverschuldet habe.“

„Sei doch vernünftig,“ sagte ihr Mann, „so steht die Sache nicht. Wie konntest du wissen, daß ihre Lage so gar trostlos war?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0797.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)