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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ein böser Traum. Hier haben sie ihre Heimat, das ist ihr Vaterhaus. Und wenn sie die Altersgrenze erreicht haben, wo wir sie, ausgestattet mit allen Kenntnissen und Fertigkeiten, die wir ihnen beibringen konnten, in den Kamps des Lebens einführen, da ringen sie sich nur schmerzlich los von den Geschwistern, mit denen sie so viele Stunden der Arbeit, der Freude und der sorglosen Spiele verlebt haben. Denn Sie können sich denken, gnädige Frau, daß wir bestrebt sind, den armen Kleinen für die kummervollen Tage, die fast alle durchgemacht, einen Ersatz zu bieten durch kleine Vergnügungen und Feste. Es ist ja ein kostbares Strandgut, das der Wirbel der Großstadt ausgeworfen und das wir wieder einzufügen trachten, damit es zum nützlichen und widerstandsfähigen Gliede des großen Ganzen werde.“

Mittlerweile war der Oberlehrer der Dorfschule hinzugetreten, der den Gesangsunterricht im Asyl leitet. Herr Amsel stellte ihn der Dame vor und der Schullehrer bemerkte, indem er sich tief verneigte, daß er den Namen schon wiederholt unter den unermüdlichen Wohlthätern der Anstalt gelesen habe.

„Möchten Sie nicht die Freundlichkeit haben, mit den Kindern einige Gesänge vorzutragen?“ fragte Herr Amsel.

Der Oberlehrer gab ein Zeichen und die eben noch lärmende Kinderschar reihte sich lautlos im Halbkreise um ihn.

Die Mittagssonne brach durch die gelichteten Baumkronen und beschien mit ihren milden Strahlen die frohe Kinderschar, die jetzt mit hellen Silberstimmen ein Lied anhub von Frühlingspracht und Sonnenschein, von Waldeszauber und Wanderlust. Die Stimmen waren gut geschult und klangen gar fröhlich zusammen. Bewegt hörte die Dame die sinnigen Lieder und patriotischen Gesänge, die nun folgten, an und ihre Augen glänzten in stiller Wehmut.

Als die Kleinen geendet hatten, trat die Dame in ihren Kreis und wußte sie, die anfangs mit scheuer Bewunderung drein gesehen hatten, bald zutraulich zu machen. Sie hatte für jedes ein freundliches Wort und fragte teilnehmend nach hundert Dingen, die Kinder interessieren und die nur eine Frau zu fragen weiß. Bald erhob sich ein eifriges Geschnatter, daß man kein Wort verstehen konnte; denn alle hatten der guten Frau etwas anzuvertrauen. Zuletzt watschelte ein dreijähriges Mädchen mit wichtiger Miene herbei, legte ihr eine alte schadhafte Puppe in den Schoß und sagte: „Sie hat nur einen Fuß!“

„Ja, wo ist denn unser Mizerl,“ fragte Herr Amsel die Direktorin, „ist es etwa wieder krank?“

„Diesmal nicht,“ antwortete diese, „die Kleine ist im Küchengarten, wo sie mit großem Eifer an ihrem Blumenbeete arbeitet. Ich habe ihr versprechen müssen, daß sie die Blumen zu Allerseelen auf das Grab ihrer Eltern und Geschwister tragen darf, und seitdem ist sie jede freie Stunde mit der Pflege ihrer Lieblinge beschäftigt.“

„Sie ist unser Schmerzenskind,“ erklärte Herr Amsel der Dame. „Sie hat das traurigste Geschick von allen erlitten, die in dieser Anstalt sind. Eltern und Geschwister wurden ihr an einem Tage durch den Tod entrissen. Ob es ein böser Zufall oder eine furchtbare Verzweiflungsthat gewesen, ist heute noch nicht ganz klar.“

Die Dame war bei diesen Worten erbleicht und in sichtliche Aufregung geraten. Sie stand hastig auf und bat die Direktorin, sie zu dem Kinde zu führen. Sie traten in den Küchengarten und sahen die kleine Gestalt des Mädchens über das Gartenbeet gebeugt und eifrig beschäftigt, die Blumen zu begießen. Dazu sang es eine eintönige Weise, die es sich wohl selbst zusammengedacht hatte, und wiederholte dieselbe ohne Unterlaß:

„Zu den lieben Eltern mein
Brüderchen und Schwesterlein,
Bring’ ich diese Blümelein;
Möcht’ bei euch im Himmel sein!“

Ueber das blasse Gesichtchen der Kleinen, das noch zarter und schmäler geworden war, fielen die goldenen Löckchen und die Sonne goß einen verklärenden Schimmer um ihr Haupt. Als sie ihr Antlitz den Ankommenden zuwendete, durchzuckte die Dame – es war Frau Hilbert – ein jäher Schmerz. „Käthchen!“ entfuhr es ihren Lippen. Diese Ähnlichkeit! Als sie in die großen klagenden Augen blickte, die so seltsam leuchteten wie die verflackernde Seele aus einem leblosen Körper, da glaubte sie ihr totes Kind wiederzufinden. Sie stürzte auf das Kind zu, preßte es mit heißem Ungestüm an sich und bedeckte seinen Kopf mit Küssen. „Willst du mit mir kommen, Kind?“ schluchzte sie.

Verwundert und ängstlich blickte das Kind die Dame an. Es hatte sie schon irgendwo gesehen; dann war sie ihm im Traum erschienen – ja, ja, das war die ernste Führerin, die es emporgeleitet in jene lichtdurchglänzte Märchenwelt, von der es so selig geträumt hatte, bis es so grausam geweckt wurde. Und dennoch fühlte es eine sonderbare Scheu vor ihr, deren Blicke jetzt, wie um Gnade flehend, an seinen Lippen hingen. War es das leidenschaftliche Ungestüm der fremden Dame, war es der Gedanke einer Trennung von den lieben Genossen – es empfand Furcht und Scheu vor der zitternden Frau und flüchtete ängstlich zur Direktorin, klammerte sich an ihre Rockfalte und stammelte: „Na, na! I bleib’ bei der ,Mutter‘!“ Alles Zureden nützte nichts. Mizerl fing zu weinen an, vergrub ihr Gesicht in den Rockfalten der Direktorin und wiederholte unaufhörlich: „I bleib’ bei der Mutter! I bleib’ bei der Mutter!“

Als Frau Hilbert am nächsten Tage wiederkam, lag die kleine Mizerl zu Bette. Sie hatte sich von jenem furchtbaren Schlage nie recht erholt und zeitweilig überfiel sie eine Schwäche, die keine eigentliche Krankheitsursache hatte und dennoch Grund zu ernsten Besorgnissen gab. Sie ließ es ruhig geschehen, daß Frau Hilbert sich an ihrem Bette niederließ und eine Menge prächtiger Spielsachen vor ihr ausbreitete. Mit müdem Lächeln überflog sie die Herrlichkeiten, die einstmals den Inhalt ihrer schönsten Traumbilder ausgemacht hatten. Ruhig hörte sie die Schmeichelreden der seltsamen Frau an, vor der sie nun weniger Scheu empfand; aber so oft diese sie aufforderte, mit ihr zu gehen, griff sie nach der Hand der „Mutter“ und ein flehender Blick wiederholte den Wunsch, den sie das erste Mal geäußert.

Eines Tages erzählte ihr die Frau, die täglich an ihrem Bette saß, daß sie das Grab der Ihrigen besucht und mit Blumen geschmückt habe. Seit dieser Zeit lächelte Mizerl, wenn Frau Hilbert ins Krankenzimmer trat, und plauderte mit ihr über alles, was sie tagsüber beschäftigte. Sie erzählte ihr auch, daß meist, wenn sie allein sei, sich ein Vögelchen auf ihren Betttand setze und ihr mit leisem lieblichen Gezwitscher wunderschöne Lieder singe. Das mache sie so selig und glücklich und sie könne nicht aufhören, dem lieben Vogel zuzuhorchen. Sie meine immer, es sei ihr Hansi, der Kanarienvogel, der an demselben Tag wie die Ihrigen gestorben sei.

Am andern Tag kam Frau Hilbert wieder, und während Mizerl schlummerte, stellte sie einen Kanarienvogel in das Fenster. Der schmetterte bald sein lustiges Liedchen hinaus, daß das Kind aus dem Schlafe aufschreckte. Es zeigte indes keine große Freude, und als Frau Hilbert wiederkam, hatte es die Augen voll Thränen. „Jetzt singt er net mehr, mei Vogerl, seit der andere so viel schreit,“ schluchzte es. Kaum war der mitgebrachte Vogel entfernt, da verklärten sich Mizerls Züge; ihre Augen strahlten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0799.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)