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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

schmächtige Südamerikaner, alles durcheinander. Durch das Gewirr der angeschirrten Pferde, der Lohnfuhrwerke und der Maultiere, auf denen die Bauernburschen und Mädchen der Umgegend mit leeren Körben am Arm und geschwungener Gerte einhertrabten, der mit flatternder grüner Schürze dahinradelnden Hausknechte trippelte ängstlich, in buntseidene Jacke und ebensolche Hosen gekleidet, auf hohen Holzsandalen eine javanische Dienerin, einen kleinen, dreijährigen Blondkopf an der Hand. Ein paar Lakaien, das Gefolge irgend einer inkognito eingetroffenen Fürstlichkeit, schauten ihr blasiert nach; ein befrackter, bloßhäuptiger Elegant, der Wiener Oberkellner eines Grandhotels, verhandelte mit der bebrillten kleinen Direktrice der gegenüberliegenden Photographienhandlung; in offenen Läden arbeiteten Schuster und Schneider emsig an den meist drängenden Reparaturen, und aus der Ferne klangen die Hammerschläge, mit denen der Schmied beim Feuerschein der Esse den Pferden neue Eisen auflegte und die wackelig gewordenen Räder für die Strapazen des nächsten Tages ausbesserte.

Wie braune Felsblöcke im Strom standen überall in dem Gewühl die wenig beweglichen Gruppen der Bergführer. Es mochten ihrer hundert oder mehr sein, die auf dem Platz zwischen der Poststation und der Kirche vor dem Bureau des Guides sich scharten.

Doch waren es meist nur die Kleineren ihrer Gilde. Die großen Gletschermänner, die eigentlichen Montblancführer, deren Namen alle Reisehandbücher nennen, hielten sich, soweit sie nicht „draußen“ waren, eher in ihren Häusern und Kantinen auf. Sie wußten, daß der Hochtourist diejenigen von ihnen, die er sich aus der ihm wohlbekannten Schar gewählt hatte, schon rufen lassen würde.

Augenblicklich herrschte in den Gruppen dieser blasiert dastehenden, unansehnlich gekleideten Gestalten etwas mehr Leben als sonst. Eine Montblancexpedition kehrte zurück. Aus den Dachluken des Hotels vor ihnen knallten die Schüsse der Hausknechte, und eine Menge Gäste – Engländer und Amerikaner – stand erwartungsvoll im Eingang, um den jungen Burschen zu begrüßen, der, die Stummelpfeife im Mund, die Eisaxt geschultert, zwischen zwei verwetterten alten Führern über die Arvebrücke daherkam. Er schien gar nicht ermüdet und lächelte kindlich vergnügt, als oben in den Dachluken die Pulverwölkchen sich kräuselten und unten ihn ein Trupp befreundeter Herren und Damen aus Boston mit einem begeisterten „Hep, hep, Hurra!“ empfing.

Der ganze Schwarm der Neugierigen zog mit ihm bis vor die Pforte des Hotels. Auf der Gasse wurde es licht. Sie lag frei vor dem einsamen, sonnengebräunten Wanderer, und er verdoppelte seine Schritte, um bald das Freie zu erreichen.

Gottlob – nun hatte er Chamounix hinter sich und stand allein.

Vor ihm lag im Abenddämmern das grüne Wiesenthal, mit steinbeschwerten Hütten übersät und eingerahmt von düsteren, blauschwarzen Tannenhängen, durch die sich in blendendem Weiß die Gletscherströme niederwälzten. Oben, über der Grenze des Waldwuchses flossen sie ineinander und bildeten ungeheuere Eismeere, die dann wieder, wo noch weiter hinauf das Reich des ewigen Schnees begann, in blendende Firnfelder übergingen. Die weißen Schneedächer wölbten sich, eines das andere überhöhend, unermeßlich zum Himmel empor und begrenzten, beinahe senkrecht über den schwindelnden Augen unten, dessen unergründliches Blau mit ihren stäubenden Kämmen. Dort oben war die Spitze des Montblanc. Es kostete Mühe, sie herauszufinden – schien doch der Dome du Gouter in der Verkürzung ebenso hoch – aber es war auch nicht die einzelne kleine, über den Abendwolken verlorene Schneekuppe, die so gewaltig wirkte, sondern der ganze Anblick dieser blendendweißen, sonnenüberglühten, sich stumm über die Erde aufreckenden Riesenwelt, vor der alles im Thal zusammenschrumpfte und nichtig erschien.

Sonnenuntergang auf dem Gipfel des Montblanc! Er kannte das Schauspiel wohl. Es lebte vor seinem innern Auge, als stände er selbst oben auf jener Höhe.

Unten in einem Dämmern von Nacht, Nebel und Wolken ging Europa zur Ruhe. Aber die Berge waren noch wach. Sie standen noch im Licht. In siebenfach flammender Gipfelpracht wölbte sich da oben, frei vor dem Montblanc hingelagert, der herrlichste aller Höhenzüge, die Monterosagruppe. Mit ihrer goldglänzenden Dufourspitze überragte sie die ganze Schweiz.

Das Matterhorn, der böse Feind, hockte ganz verkümmert und zerknirscht links daneben. Wohl stand auch sein trotzig zurückgekrümmter Gipfel noch in lichten Abendflammen, aber seine Gestalt war von hier betrachtet unschön, ganz anders, als wenn man umgekehrt von der Spitze des Monterosa aus die Felspyramide gerade vor dem Montblanc stehen sieht. Jetzt trug sie deutlich einen Höcker und war in sich zusammengesunken, ein buckliger Teufel, der aus der Ferne wenigstens keinen mehr schreckt.

Auch das Berner Oberland schien klein gegen die Monterosapracht. Seine Giganten standen zu dicht beisammen. Rotüberstrahlt drängten sich Jungfrau, Mönch und Eiger Hand in Hand, und an sie wieder preßte sich die zackige Riesenwand der Ebenfluh, das gigantische Dreieck des Breithorns und die Tschingelkette, wie gegenüber, Mann neben Mann zur Mauer gereiht, die Aar- und Schreckhörner mit funkelnden Eiskronen standen und über ihre Schulter weg aus der Wetterhorngruppe die Rivalin der Berner Königin, die schöne Hasli-Jungfrau, im Abendgold blitzte.

Hier im Norden und Osten sank rasch die Nacht auch über die Hochgipfel. Von den Eistürmen des Engadins war nichts mehr zu sehen, der Tödi versunken, vom Schwarzwald her lag es finster auf Deutschland und der Schweiz. Aber nach der anderen Seite hin wollte das Licht noch nicht weichen. In Italien war es noch hell. Ein düster ragender violetter Riesenklotz, bewachte da der Monteviso sein Reich. Grivola und Paradies standen vor dem Gewimmel der italienischen Seealpen, hinter denen in unsichtbaren Fernen das Mittelländische Meer rauschte, und blickte der Montblanc dorthin, in sein Heimatland nach Frankreich hinüber, so schimmerten da noch deutlich unter ihm die zerrissenen Schneeflächen, die zackigen Felsengipfel und wilden Schluchten der Dauphiné.

Tiefer und tiefer sank zwischen ihnen der rote Sonnenball, und in dieser Spanne weniger Minuten, in denen das Licht zur Nacht sich wandelt, ging plötzlich eine wundersame Bewegung durch die Firnwelt. Es schien, als seien auf einmal die weiten Schneefelder von innen belebt. Sie leuchteten in warmen, fleischfarbenen Tönen, und ihre über Mulden und Kesseln lagernden Schatten gewannen einen hellen, grünlichen Ton, gleich dem Widerschein des Abendhimmels, an dem das verschwimmende, von Rosenwölkchen durchsetzte Blaßblau in durchsichtigen, seegrünen Schimmer überging.

Nur eine kurze Frist – dann war auch für die Spitze des Montblanc der Sonnenball geschwunden, und fast im selben Augenblick kleideten sich Schnee und Eis umher bei sofort unheimlich steigender Kälte in ein stumpfes, totes Weiß. Aber der Beschauer unten im Thale wußte es wohl: die Nacht war noch nicht da. An Stelle der kleinen roten Scheibe, vor der jetzt schwarz, wie zackig mit der Schere ausgeschnittene Riesenkonturen die Berge standen, lief rechts und links ein breites, rotes Feuerband über den Horizont. Es dehnte sich mehr und mehr aus, es spannte sich nach Frankreich und Italien und bildete einen flammenden Hintergrund, von dem die Schattenrisse der Berge sich gigantisch in unwahrscheinlichen, bei Tage nie geschauten Gespenstergestalten abzeichneten.

Im Halbkreis um den Montblanc lohte Europa. Ein Weltbrand, eine jener Farbenorgien, in denen sich, unbekümmert um Menschenaugen, die schweigende Natur berauscht, wenn sie in der Polarnacht die regenbogenbunt zitternden Bänder des Nordlichts über den Himmel wirft, wenn sie das tiefblaue, von weißen Schaumspritzern gekrönte Eismeer in den blutigen Dunst der Mitternachtsonne kleidet oder dem Monarchen der Montblanckette einmal noch seine Lande im Feuerschein zeigt, ehe die Nacht ihre grämlichen Hüllen darüber wirft.

Denn nun kam die Nacht wirklich. Das Flammenband am Horizont ward blasser und blasser, ein kränklicher, violetter Hauch legte sich darüber hin und ging rasch in volles Schwarz über. Die Dunkelheit war da, die Dunkelheit der Hochwelt, in der nur noch das letzte ersterbende Schneegeriesel und, wenn auch das zu Ende, zuweilen ein langgezogenes Sturmgestöhne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0818.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2019)