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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Das Morgengrauen war da, eiskalt und trübe im Brauen des Nebels, der alles umflutete. Grämlich standen in seinem Geriesel die nächsten Gletscherzacken. Weiterhin war nichts mehr zu sehen als der weiße Rauch. Kein Lüftchen regte sich. Tiefe Stille lag über dem ganzen Firnkessel, während die Luft sich mehr und mehr erhellte.

Die Führer hatten über einer Spiritusflamme aus Schneewasser einen dünnen heißen Kaffee bereitet und sich mit Brot und Speck gestärkt. Jetzt warteten sie schweigend, was ihre Herren beschließen würden.

„Vorwärts!“ sagte der Prinz ziemlich apathisch, und die vier Führer kauerten, ohne weiteren Wortwechsel, am Boden nieder und packten die Seile, Steigeisen, Laternen, Wein und Fleisch und den übrigen Gletscherbedarf zusammen. Was sonst da noch in Unordnung auf der Felsplatte herumlag, sollten die durch die Höhennacht völlig verblödeten und verängstigten Träger wieder mit sich nach Chamounix zurücknehmen.

Der Abschied war nicht gerade herzlich. Die verdrossene Beklommenheit, die eine gefährliche Hochtour einleitet, lastete auf der kleinen Schar. Man trennte sich mit kurzem Kopfnicken der Herren und stummem Hütelüften der Leute.

Ein kurzer Marsch, eintönig in dem Schlürfen der Bergschuhe, dem taktmäßigen Aufstoßen der Pickel, ab und zu dem Kollern eines losgelösten Steins – dann standen sie vor dem Aufstieg in die Eisrinne, einer halbkreisförmigen, von hohen Wänden umschlossenen Mulde. Ihr ganzer Boden bestand aus einem losen, jetzt an der Oberfläche erstarrten Schneehaufen, der sich zu dem Couloir hin wölbte. Vereinzelte Steine lagen auf ihm und zahlreicher noch steckten festgefrorene Eisblöcke und -klumpen jeder Größe in der körnigen, weißen Hügelmasse.

„Das alles kommt nun in ein paar Stunden von da oben runter!“ Der Yankee wandte sich zu seinem Gefährten zurück. „Nette Gegend! Hier möcht’ ich mal ein Nachmittagsschläfchen in der Sonne halten! Sehen Sie nur diesen riesigen Eiswürfel vor uns am Eingang ins Couloir! Ein Vorposten von dem Gletscher hoch oben! Das Biest kauert wie ein Eisbär im Nebel!“

Der Hüne schob sich an ihm vorbei, übellaunig und mit gelbem Gesicht. „Lassen Sie uns vorbei!“ sprach er heiser. „Mein Berner Führer und ich gehen voraus und hauen die Stufen!“

Der junge schmächtige Berner Oberländer schlug mit unheimlicher Behendigkeit Stufen in das glasharte Eis. Fünfzig, sechzig mit voller Wucht geführte Schläge waren nötig, um nur einen schmalen Tritt herzustellen. Aber seine Arme, dünn und zäh wie Eisendraht, schienen die Mühe gar nicht zu empfinden. Sie hoben und senkten sich ohne Pause und stetig, schrittweise rückten hinter ihm die andern auf. Es ging verhältnismäßig rasch vorwärts. Schon sahen sie den großen Schneehaufen am Ende der Rinne nicht mehr, sondern nur noch Nebel unter sich und neben sich die zerklüftete Felswand, in deren Spalten sich die schräggehaltenen Aexte feststemmten, während die Füße unbeweglich in den Stufen standen. Dann ein leichter Ruck am Seil, ein vorsichtiger Schritt in die nächsthöhere Kerbe und wieder ein langer Halt, in den von oben das Klirren und Splittern der Eisarbeit tönte.

Da plötzlich pfiff einer leise durch die Zähne. Nun wurde es Ernst! Die bisher mäßig abfallende Eisrinne, in der sie emporklommen, bäumte sich jetzt auf einmal jäh vor ihnen auf und stürzte in fürchterlicher Steilheit, beinahe senkrecht, von oben aus dem Nebel herab. Daß der Nebel jeden Ausblick hinderte, daß man nicht erkennen konnte, wie lange diese bösartige Stelle dauerte, erhöhte das Unheimliche des Eindrucks. „Wer da den Halt verliert, dem gnade Gott!“ Ein jeder schämte sich, das vor den anderen auszusprechen, und fühlte es doch in seinem Herzen.

Sie standen beinahe übereinander in den Fugen des Berges, wie eine schwarze Riesenraupe, die, sich ruckweise zusammenziehend und streckend, an einer Wand in die Höhe kriecht. Keiner redete ein Wort. Sie atmeten schwer, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, als Männer, die sich vor ihresgleichen zu beherrschen wissen.

Einmal mußte ja doch diese entsetzliche Leiter, auf der sie in die Nebelwelt hinaufstiegen, wieder in eine sanftere Krümmung übergehen. Aber es hatte nicht den Anschein. Im Gegenteil, je höher sie kamen, desto jäher schien der Abfall der Rinne. Und zugleich schoben sich die Felsen von beiden Seiten heran, so daß der Eisriß schließlich kaum mehr als drei oder vier Fuß breit war, in dem sie, frei in der Luft auf den Stufen fußend, zwischen den senkrecht abfallenden Wänden staken.

„Halloh, Prinz!“ tönte es von unten.

Der Prinz drehte den Kopf nicht rückwärts. Er hätte den kleinen Amerikaner tief unter sich ja doch nicht gesehen. „Was ist denn los?“ frug er stumpfsinnig vor sich hin.

„Es ist halb Sieben! In einer Stunde fallen die ersten Steine! Wir müssen vorwärts um jeden Preis!“

„Eilen Sie sich, Josef!“ sagte der Prinz zu dem hageren jungen Stufenschläger. „Sonst fängt uns die Eislawine.“

Der Berner drehte sich um. Sein sommersprossiges Gesicht schimmerte feucht von der Anstrengung. Es hatte seinen gewohnten nichtssagenden Ausdruck. „Schneller geht’s nicht!“ sprach er kurz. „Das Eis ist hart!“

„Na, dann wird uns wohl der Teufel holen!“

Der schmächtige Geselle lachte beinahe mitleidig. Er schien sich in dieser beklommenen Lage hier oben so wohl zu fühlen wie zwischen seinen vier Wänden. „Da wär’ ich der Rechte!“ sagte er. „Bin ich der Josef oder nicht? In dreiviertel Stunden sind wir draußen!“

„Wahrhaftig?“

„Ich hab’s doch gestern geschätzt. Vierhundert Stufen sind’s. Dreihundert hab’ ich jetzt geschlagen!“

Noch war es totenstill in den Kaminen und Schründen. Die tückischen Kobolde der Hochwelt, die Steine und Eisbrocken, schliefen noch, als Spätaufsteher, die erst, wenn die Sonne schon hoch im Osten emporgestiegen ist, sich zu den todbringenden Sprüngen ins Thal rüsten. Die Steilheit des allmählich wieder breiter werdenden und an einzelnen Stellen von Felszacken durchbrochenen Couloirs blieb sich freilich immer gleich. Aber der Nebel änderte sein Aussehen. Er war nicht mehr gleichförmig grau, sondern bildete feine, weißliche Flocken, und dahinter leuchtete es goldig, in einem märchenhaften Schein.

„Juhu!“ der Gletschermann aus Grindelwald durchbrach plötzlich das Schweigen mit einem Jodler, daß die unter ihm erschrocken zusammenfuhren.

„Was giebt’s denn?“ erkundigte sich aus der Tiefe der Eisschlucht der Yankee.

„Hol’ der Herr seine Brille ’raus: die Sonne giebt’s! Und gleich da oben ist der Gletscher!“

Mann für Mann tauchte die ruckweise ansteigende Kette aus dem Nebelmeer in helles Licht und blauen Himmel hinauf. Hart über ihren Köpfen blinkte der hochgewölbte, von bläulichen Spalten durchsetzte Eiswall der Gletscherzunge. Die Rettung war nahe, aber die Gefahr größer als je. Stumm wie Soldaten in der Schlacht, die jeden Augenblick ein Geschoß treffen kann, standen sie unter dem Firnstrom. Und auf ihm lagen die mählich in der Sonne rutschenden Schneemassen, die im tauenden Eiswasser langsam abwärts gleitenden Steine. Was sich dort oben löste, riß sie im Bogen mit in den Abgrnnd …

In dem wurde es allmählich licht. Die Nebelschwaden zerrissen, und plötzlich leuchtete ganz unten, in schwindelnder Tiefe, ein kleiner grüner Fleck auf. Er vergrößerte sich rasch, kleine Sennhütten zeigten sich auf dem immer weiter werdenden Wiesenplan, und endlich lag das Arvethal mit seinen blühenden Matten und dem niedlichen, wie ein Spielzeug aus der Schachtel gepackten Städtchen Chamounix frei vor ihren Augen.

„Schade, daß wir sie nicht mit hier oben haben!“ sagte der Amerikaner.

„Angela?“

„Ja. Das wäre mir eine angenehmere Gesellschaft als Sie!“

„Mir auch! Aber in ein paar Stunden treffen wir uns ja und gehen zusammen auf den Montblanc!“

„Aber Sie sind immer dabei! Das stört mich!“

„Mich auch! Daß Sie da sind!“

Der Riese lachte. „Ich bin zu faul, Franklin’“ sagte er. „Schauen Sie doch mal nach, ob noch nichts von der Höhe kommt!“

„Leider nein!“

„Leider?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0839.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)