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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Ja, wenn Sie’s träfe!“

„Na …. wenn Sie so sind,“ der Riese war entrüstet, „dann wünsch’ ich Ihnen auch ein Eisstück an den Kopf.“

Dabei wiegte er den linken Arm hin und her. „Soll ich Ihnen einen Schubs geben, Franklin?“ frug er tückisch lächelnd.

„Thun Sie’s! Ich denunziere Sie noch im Herunterfliegen dem Friedensrichter. Die Führer sind meine Zeugen!“

Die Führer hatten nicht auf das Gespräch geachtet. Starr wie Steinsäulen in den Stufen stehend, folgten sie mit den Augen der Arbeit ihres schmächtigen deutschen Genossen. Jetzt schlug er die letzte Stufe, jetzt schwang er sich über den Rand auf die Oberfläche des Gletschers und aufmunternd tönte sein Halloh! herüber.

Nun ging es rasch. Einer nach dem andern stieg lachend herauf. Es war ihnen allen merklich leichter um die Brust, als sie im Halbkreis auf dem Gletscher saßen, der, immer noch steil genug und listig mit Schnee bedeckt, sich vor ihnen auftürmte. Das gab noch harte Arbeit und ebenso das Klettern über den nadelscharf aus den Firnschründen aufschießenden Felsgrat, der zur Spitze führte. Aber das Schlimmste war doch überstanden, der Lawinenschlag, der den Tollkühnen wie den Schwächling gleichmäßig in die Tiefe reißt.

Während sie im Schnee kauernd frühstückten, deutete der deutsche Führer Josef, mit beiden Backen kauend, auf den Gletscherhang. Ein zerfressener Eisblock, in dem ein Haufen Steine von allen Größen feststak, löste sich da im Sonnenschein ganz still und lautlos von seiner Unterlage ab und glitt gemächlich, schneckengleich, über den Rand. Im nächsten Augenblick krachte es unten auf, ein Sausen und Poltern, das sich allmählich verlor, begleitete die pfeilschnelle Fahrt des Eis- und Steinhagels auf der Rutschbahn des Couloirs hinab in die Mulde.

Franklin Moore zog die Stirne kraus und sah auf die Uhr. „Acht Uhr zwölf Minuten!“ verkündete er. „Die Steine sind unpünktlich. Jetzt geht die Geschichte aber los.“

Die Männer hatten sich ernst angesehen. „Wenn wir jetzt noch darin wären …“ sagte ein französischer Führer und strich nachdenklich seine Bartkoteletten.

„Man ist eben nicht mehr drin!“ erwiderte Franklin kaltblütig. „Was, Prinz … das ist die Hauptsache im Leben ... sich nicht erwischen lassen?“

„Ja,“ sagte der Recke und beide lächelten sich feindlich an.

„Dann auf!“ Der Amerikaner sprang elastisch empor. „Vorwärts, zum Gipfel!“ wandte er sich an die Führer und wies in die Höhe.

„Zum Gipfel!“ wiederholte die dumpfe Bärenstimme eines welschen Gletschermannes und die Führer rüsteten, einander stumme Blicke des Nationalitätenhasses zuwerfend, alles zum Weitermarsch.


22.

„Valere aude!“ Wage es, gesund zu sein! – Werde, was du bist – oder vergehe! – Die Worte lagen stumm auf seinen Lippen, als der Afrikaner am selben Morgen vor das Hotel trat. Noch glitzerten überall nebelfrei die Sterne über und zwischen den in dämmerndem Weiß vom Himmel sich abhebenden Schneeflächen. Während sie im Morgengrauen erloschen, dampften alle Thäler von würzigkaltem, feinem Rauch, langgezogene weiße Dunststreifen schwebten wie ausgespannte Schleier vor den Flanken der Berge und vergingen langsam vor dem Hauch der Sonne, die in wolkenlosem Blaßblau über den goldig blitzenden Firnkämmen aufstieg.

Da stand der Montblanc, ein strenger Gebieter, ein Monarch, wie man früher seine Spitze nannte, als freier Herrscher der Alpenwelt. Sein weißes Haupt ragte über die Menge der Gipfel, von seinen mächtigen Schultern wallte im Faltenwurf des ewigen Schnees, von azurnem Gletschergefunkel gestirnt, der hermelinreine Krönungsmantel bis zum Fuß, dem die Thäler unten in schwarzer Tannenwildnis und mit lichtgrünen Matten als Schemel dienten. Alles umher war sein Reich. Was da war, kam von ihm: die Eisströme, die in erstarrten, hochaufgebäumten Wellen in die Tiefe flossen, die Meere von Steingeröll und Bergtrümmern, die ihrem Zuge sich voranwälzten, die schäumenden, grauen Wildbäche, die von den Gletscherthoren durch breite, von der Verwüstung geschaffene Kieselbetten waldabwärts brausten! Manch eingestürztes Haus, manches beharrlich neu aufgebaute Menschenwerk wies dort unten ihren verderblichen Weg, auf dem der weiße König da oben, achtlos, wie der Fuß des Wanderers das Leben unter sich zertritt, über die Ameisenhaufen im Thal hinweggeschritten war.

Aber heute hätte man das dem Gewaltigen kaum zugetraut! Er zeigte im Sommersonnenschein sein freundlichstes Gesicht, jene heitere, kraftgetragene Ruhe, die unseren Wanderer unwiderstehlich zu ihm emporzog.

Das Saussuredenkmal am Ausgang des Städtchens wies dem Afrikaner den Weg. Die Augen erhoben, blickte die Gestalt des Gelehrten nach dem Berge, neben ihm, tollkühn lachend [mi]t dem ausgestreckten Finger auf die höchste Spitze des Montblanc [we]isend, sein Führer Jacques Balmat. „Balmat de Montblanc“, wie der König von Sardinien auf Lebenszeit den verwegenen Savoyarden nannte, der als der erste Mensch und allein in dieser Höhenluft von fast 5000 Metern geatmet.

Der Afrikaner sah ihn nachdenklich an. Er kannte wohl sein Schicksal. Immer wieder hatte es den trotzigen Gesellen hinaufgelockt in die weiße Märchenwelt. Einsam, menschenscheu strich er dort umher und suchte und suchte … Gold, sagten die einen, neue Wege zum Gipfel, die andern. Schließlich war er nicht wiedergekommen … der Montblanc hatte seinen Bezwinger bei sich behalten. Er bettete den gealterten Mann da, wo unterirdisch die Gletscherwasser sprudeln und von obenher, ein schmaler himmelblauer Spalt, der Sonnenschein in azurner Finsternis leuchtet. Die Stelle weiß man nicht und die Gebeine bleiben verschwunden. Der Montblanc hat sich gerächt.

Aber andere folgen nach.

Die treibt auch die Sehnsucht nach oben, dem Himmel zu. Die suchen auch dort oben Schätze, verlorenes, geheimnisvolles Gut, und finden statt der Erkenntnis den Tod. Und damit wenigstens die Befreiung von allen Zweifeln!

*  *  *

Empor über den Zickzackweg ewigen Tannenforstes, stunden- und stundenweit empor über kahler werdende Berghalden, über quelldurchsprudelte, blumenbesäte Grashänge, über Felsblöcke und Geröll – da schon über das erste kleine Schneefeld und unter einem neugierig von hoher Felswand herablugenden Gletscherwall hindurch bis zur Grenze des toten Reiches!

Da begann es: eine weite Ebene von graukörnigem Eis, durch klaffende, riesige Risse in Trümmer- und Bruchwerk, in hausgroße Würfel, in lange, chausseeartige Rücken geschieden.

Anfangs zahm und eben, gewann der Gletscher, wo er an der „Jonction“ mit seinem Nachbar zusammenstieß, das wilde, bizarre Angesicht der Hochwelt.

Wie durch die Gassen einer aus Firn und Eis erbauten und im Erdbeben wieder eingestürzten Stadt wandelte der Eindringling dahin. Ein Pompeji im ewigen Schnee. Steil ragende Glaswände und zerschellte, glitzernde Scherben, eingerutschte Hügel, schiefgeneigte oder abgebrochen am Boden schmelzende Krystallsäulen, Zacken und Zähne, Türme und Mauerreste überall, und als Bewohner des weißen Kirchhofs, da und dort aufstarrend, wunderliche, in der Sonnenglut triefende und schwitzende Eismänner; wie ein Koboldkönig unter ihnen ragend ein bogenförmig nach hinten in Art eines Walroßhauers gekrümmtes Firnhorn – das alles säumte den Weg ein, der sich durch lange, stille Gletschergassen, auf freiem Schnee, in Mulden hinab, über spröde Glasstufen zu schmalen Firndächern empor, die Séracs, aufwärts schlängelte.

Wie die Spuren jenes Erdbebens klafften überall zwischen den Trümmern die in unbekannte Tiefen führenden Spalten, die einen tückisch mit Schnee verklebt, der beim ersten Stich des Pickels in Brocken in den Abgrund fiel, die anderen mit offenen schwarzen Rachen zum blauen Himmel aufgähnend. Die größten von ihnen zu überspringen war unmöglich. Sie klafterten wohl 15, 20 Fuß, und schmale Leitern führten, den scheußlichen Abgrund überbrückend, von dem Thalhang eines

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0842.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)