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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

solchen Gletscherrisses zu dem ihn weit überhöhenden Bergrand empor.

Den Afrikaner durchfröstelte ein eigenes wollüstiges Grausen, während er, auf die Hände und Kniee gestützt, über die Leiter kroch und durch deren Sprossen unter sich, wo sich der bläuliche Metallglanz der Gletscherspalten in unergründliche Nacht und Tiefe verlor, die unterirdischen Ströme brausen hörte. Der alte Reiz kam wieder über ihn, dies Necken mit dem dumpf glotzenden und schwerfällig nach seiner Beute tappenden Tode. Der letzte dieser Uebergänge war bequemer: eine Art großer Laufbrücke mit Geländer, dahinter steil aufsteigend der schneebedeckte Gletscherhang, an dem oben seitlich ein rotgestrichenes Haus mit zwei niedrigen Stockwerken aus dem Eise aufwuchs und sich an eine Reihe Felsklippen lehnte. Unter dem neuen „Hotel des Grands Mulets“ stand wie ein Nebelstrich die grauverwitterte, halbzerstörte alte Steinhütte.

Auf der Galerie bewegten sich Punkte. Rufe und Juchzer tönten durch die dünne Luft und empfingen den vom Gletscher aufsteigenden Wanderer.

Einer der grauköpfigen Engländer vom „Alpine Club“ bog sich mit jungenhafter Behendigkeit über das Geländer und begrüßte den Ankömmling mit einem Scherz.

Die Führer hinter ihm lachten rauh wie die Bären, und auch der Afrikaner lachte, während er, am Ziele angekommen, die Schneebrille abnahm.

Jetzt erst sah er die volle Pracht der Umgebung. Blendendes, leuchtendes Weiß überall und strahlendes Tiefblau darüber. Es gab keinen Uebergang, keine anderen Farben. Nur an dem stumpfen Braun der Hüttenfelsen konnte sich das Auge ausruhen.

Diese Felsstufen waren mannigfach geschmückt. Die nassen Lappen der Flanell- und Seidenhemden hingen da mit beschwörend aufgereckten Aermeln zum Trocknen, die Unterbeinkleider flatterten, durch Steine beschwert und festgehalten, im Winde, die Bergstiefel standen gereinigt und frisch eingefettet auf den warmen Steinplatten, und dazwischen saßen, die mit Pantoffeln und Halbschuhen bekleideten Füße herabbaumeln lassend, die Briten und rauchten ihr Pfeifchen.

Die Führer trieben sich um sie her. Sie fühlten sich zu den erfahrenen Gletschermeistern des Londoner Alpenklubs vertraulich hingezogen und gingen erfreut auf deren trockene Witze und Späße ein, ohne doch die Ehrerbietung außer acht zu lassen. Besonders bewunderten sie den Matador der Gesellschaft, einen hageren Graukopf, um den seit Jahrzehnten sich der Nimbus alpiner Heldenthaten wob. Er kannte alle Führer bei Namen. Mit den älteren Männern, die unter den struppigen Bärten schmunzelnd ihm zuhörten, verkehrte er auf dem Fuß derber Kameradschaft. Die jungen Leute, die unter seinen Augen im Hochgebirge aufgewachsen waren, begönnerte er mehr väterlich, und als er dem einen einmal ein anerkennendes Scherzwort hinwarf, verklärte sich das magere Eulengesicht des Burschen förmlich vor Wonne.

Die beiden anderen Engländer – Vater und Sohn – schienen von einem merkwürdigen Thatendrang belebt, zu dessen Dämpfung die Ueberwindung von 2000 Metern Höhe zwischen Chamounix und den Grands Mulets offenbar nur wenig beigetragen hatte. Fortwährend waren sie unterwegs, auf Expeditionen, deren Zweck und Ziel keinem andern einleuchtete. Bald erklommen sie mit Hilfe der mit den Schultern sie stützenden Führer irgend eine steile Felsplatte, um sich dort gähnend und zum Himmel aufblinzelnd zu sonnen, bald wieder übten sie, von oben herabgeglitten, keuchend ihre Kraft im Emporheben schwerer, am Boden verstreuter Steinblöcke. Dann wieder waren sie wie Indianer auf dem Kriegspfad hinter die Hütte geschlichen, und wer ihnen dort folgte, konnte Vater und Sohn lautlos, nach allen Regeln der Kunst und finsteren Gesichts, mit markierten Schlägen aufeinander losboxen sehen. Zurückgekehrt, schlugen sie einen Gesang vor. Erst trällerte der junge Bursche einen Niggertanz und bemühte sich zugleich, halb in der Zerstreuung, das Holzgeländer der Galerie zwischen seinen Eisenfäusten entzweizuknacken, dann brüllte, als er sich enttäuscht abwendete, einer der Führer, ein baumlanger Cyklop, ein melancholisches Lied. Seine Stimme klang melodisch wie der Baß eines Kettenhundes. Aber er ließ sich nicht stören. Die anderen stimmten andächtig in den Kehrreim ein. Dann wurden sie nachdenklich. Man sah, wie sie über einen neuen Zeitvertreib grübelten, während sie ihre Pfeifen ausklopften und dem scherzenden Ringkampf zweier Führer folgten, die sich fluchend mit Bärengriffen umklammert hielten und wie Betrunkene hin und her taumelten.

Der lustige Graukopf schaute indessen durch sein Fernrohr nach dem Montblanc. „Sie sind Deutscher, Herr?“ frug er den neben ihm stehenden Afrikaner. „Eben kommt Ihr Landsmann, ein Offizier, über die ,Bosses du Dromadaire‘ herunter!“

Der andere nahm das Glas und prüfte die drei nachtschwarzen Schattengestalten, die sich riesenhaft, gleich gespenstischen Schornsteinfegern, von dem stahlblauen Himmel abzeichneten und in seltsamen, stelzbeinigen Bewegungen wie Marionetten die steile Eisschneide herabklommen.

Es ärgerte ihn, daß so viel Menschen auf den Bergen waren! Auch der Gletscher unten belebte sich immer mehr. Es war ein förmliches Getümmel von schwarzen Punkten, die, wie Perlen an einen Faden gereiht, langsam aufwärts krochen. Vor den Gletscherspalten stauten sie sich zu Klumpen. Man konnte deutlich die zweifelnden Handbewegungen, die ermunternden Winke der Führer, das ganze Gewirtschafte erkennen, bis endlich einer nach dem andern sich ein Herz faßte und wie ein Insekt über die Leiter krabbelte.

Bei den Trupps, die juchzend und jodelnd die obere Schneehalde erklommen, unterschieden sich bereits die Montblancbesteiger durch die Eisaxt und das Führerpaar von den zu dritt und viert an zwei Führern angeseilten, bergstockbewehrten Hüttengästen, und bald langten die vordersten Expeditionen schwitzend, aufgeregt und glückselig bei der Felseninsel an.

Die anderen tröpfelten im Laufe der Stunden hinterher, eine wahre Musterkarte aller Nationen. Zuerst ein holländisches Ehepaar, liebenswürdige junge Leute, die beinahe gleichzeitig nach drei Seiten hin deutsch, englisch und französisch plauderten, dann ein Magyare mit bräunlichem Gesicht und dunklem Spitzbart. Das ungewohnte Bergsteigen hatte den Sohn der Pußta mehr als die beiden Niederländer erschöpft. Er setzte sich still und melancholisch in die Ecke.

Die nächsten im Schnee anfwärtsstapfenden Gesellschaften verrieten schon von weitem durch ihr keuchendes Geplapper das gallische Blut. Monsieur L’Abbé geleitete mit Hilfe einiger Führer seine Schutzbefohlenen, drei schmächtige, verlebt aussehende junge Pariser, auf der Ferienreise zu dem Hotel des Grands Mulets. Sein glattes, römisches Priestergesicht schaute wunderlich aus dem Bergkostüm, wie der Fuchs aus dem Sack. Im übrigen war er ein liebenswürdiger Weltmann und plauderte in dem engen, gestopft vollen Wirtsstübchen wie im Salon.

Die hinter ihm waren Südfranzosen! Einer jener rundlichen, breitschulterigen Provençalen, die einen mit ihrem schwarzen Augengefunkel zu erdolchen scheinen und mit den Gesten eines Raubmörders um das Salzfaß bitten. Dieser lebendige Mann in den Vierzigern war eine Leuchte des Touristenvereins der Dauphiné. Morgen früh stand er auf dem Montblanc – „als der erste, Monsieur! Ich schwör’ es Ihnen! Es gilt die Ehre Frankreichs gegen Engländer und Preußen!“ – und unten von den Grands Mulets würde die ganze Gesellschaft, die mit ihm gekommen, dem kletternden Familienhaupt ihre Grüße zuwinken: die Gattin, eine fröhliche Dame zu Mitte der Dreißig, die beiden Knaben, der Onkel und der Schwager.

Und immer neue Trupps kamen in Sicht und krochen jodelnd auf dem Gletscher heraus. Bis zum Abend war unzweifelhaft das letzte Bett im Hause belegt. Schon jetzt war im Gastzimmer längst kein Raum mehr. In der Küche daneben, in der mit fliegendem Atem die freundliche Wirtschafterin hantierte, drängte sich die Elite der Chamounixführer, und der Platz vor dem Hause wie die Galerie daneben war dicht mit ihnen und ihren gedankenvoll rauchenden, plaudernden und gähnenden Touristen besetzt.

Nun kam auch noch Zuwachs von oben. Auf den steilen, weißen Hängen, die vor der Hütte sich zum „Petit plateau“ emporzogen, erschien hoch oben der Montblancbesteiger zwischen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0843.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)