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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

seit so vielen Jahren? Warum haben Sie in mir, seit Ihr Mann tot ist, immer wieder die Hoffnung erweckt und wieder ausgelöscht? Warum haben Sie mein Leben lang mit mir gespielt?“

Es dauerte lange, bis sie antwortete. „Sie sprechen von meinem Mann,“ sagte sie dann schweratmend wie ein Mensch, der eine lange zurückgehaltene Beichte ablegt. „Ich will auch von ihm anfangen. Sie haben ihn gekannt. Sie wissen: er hatte alle Eigenschaften, glücklich zu sein. Und nach außen hin schien er es ja auch zu sein! Und doch ging er, wenige Wochen, nachdem Sie uns auf dem Montblanc getroffen, hier in den Bergen abseits und stürzte sich über den Abhang. Alle Welt glaubte an einen Unglücksfall. Ich weiß es besser. Er hat mir einen Brief hinterlassen.“

„Ich habe es geahnt.“ Der Afrikaner blickte finster hinauf zu den gespenstig weiß im Mondschein durch die Nacht schimmernden Höhen. „Aber warum? Um Gottes willen warum?“

Die weiße Schleiergestalt neben ihm fröstelte. „Wegen mir!“ sprach sie halblaut. „Wegen mir, weil ich ihn nicht lieben konnte! Und er liebte mich so wahnsinnig. Ich war sein ganzes Glück und Leben. Und als er sah, daß ich es ihm nicht sein konnte, da hat er beides weggeworfen. Ich habe seinen Tod auf dem Gewissen – ich allein!

Und ich kann doch nichts dafür! Ich kann nicht lieben! Ich kann nicht! Sehen Sie meinen Vater an! Ich bin seine Tochter und habe sein Blut. Wir sind Menschen wie von Eis. Es ist nichts Lebendiges in unsern Adern.“

Ihre Stimme war stärker geworden. Leidenschaft und Verzweiflung klang durch. „Sie wissen nicht, wie ich darunter gelitten habe,“ fuhr sie fort. „Einen guten edlen Menschen neben sich leiden zu sehen, bitten und mit tausend Lockungen werben und endlich verzweifeln und mit einem Fluch über mich in den Tod gehen! Und dabei nichts ändern, nicht helfen zu können. Denn erzwingen läßt es sich ja nicht und jede Heuchelei wird bald durchschaut. Es ist mein Schicksal, daß ich nicht lieben kann. Ich muß es tragen. Aber als man die Leiche hinunter nach Chamounix brachte, da habe ich mir geschworen, keinem zweiten die Enttäuschung und mir die Qual einer neuen Ehe zu bereiten. Darum gehe ich einsam durch die Welt und werde einsam bleiben und bin tief unglücklich mit all meinen abenteuerlichen Fahrten und meinem abenteuerlichen Gefolge hinterher! Denn ich habe eben das Beste im Leben nicht!“

Er sah sie an. „Wenn dem so ist,“ frug er, „warum duldeten Sie mich dann nicht in Ihrem Gefolge? Warum flohen Sie denn gerade mich, wo jeder Mann Ihnen gleichgültig ist?“

„Weil ich mich vor Ihnen fürchtete!“ sagte sie, seinen Blick meidend, in die Nacht hinein, „oder vielmehr, weil ich mich davor fürchtete, daß Sie doch zu viel Macht über mich gewinnen könnten! Liebe war es nicht. Aber Sie waren der einzige, der Gewalt über mich hatte. Immer! Ueberall, wo wir uns trafen! Ich fühlte, daß ich in Ihrer Nähe willenlos wurde und vielleicht, wenn Sie den rechten Augenblick benutzten, das verhängnisvolle ,Ja‘ gesagt hätte, weil ich nicht mehr anders konnte. Darum floh ich stets noch im letzten Augenblick vor Ihnen. Und das war gut. Denn wir wären beide doch nur tief unglücklich geworden. Sie, weil Sie mich lieben, und ich, weil ich nicht lieben kann!“

Er schaute sie an. „Und doch stehen Sie jetzt neben mir!“ sagte er langsam. „Ringsum die Berge. Kein Mensch mehr wach! Wir beide allein! – Aber nun ist es zu spät! – Zu spät! Zu spät! Ich sterbe! Wir wollen Abschied nehmen! Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand und lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen. Ich hab’ es lange nicht geschaut!“

Sie schlug schweigend den Schleier zurück und zeigte die schönen, leichenweiß im Mondschein leuchtenden Züge. Ueber dem dunklen Haar lag ein feiner silberner Schein.

Sie lächelte trübe. „Sie haben mir neulich in Tetuan geschrieben: ,Wir werden alt und grau, Frau Aventiure!‘ Bald ist’s wahrhaftig so. Die Zeit der Abenteuer geht vorbei und unser ganzes Leben, und wir haben doch eigentlich so wenig davon gehabt. Ich weiß ja nicht, ob das Schicksal, von dem Sie sprachen, Sie wirklich oben auf dem Berg erwartet – aber ehe Sie hinaufsteigen, geben auch Sie mir noch einmal die Hand zum Abschied und sagen Sie mir, daß Sie mir nicht mehr zürnen!“

„Nein!“ Der Afrikaner hielt ihre beiden Hände und schaute ihr lange in das schöne, nur von dem geheimnisvollen Leuchten der Augen belebte Totengesicht. „Ich danke Ihnen, Frau Aventiure – trotz alledem! Die Sehnsucht nach Ihnen hat mein Leben groß und frei gemacht und giebt mir jetzt noch das Geleite auf meinem letzten Gang. Leben Sie wohl! Ich gehe jetzt allein hinauf auf den Montblanc. Vielleicht finden wir uns noch einmal oben auf dem Gipfel und in der Sonne.“

(Schluß folgt.)     


Eisenbahnreformen.

Vor dreißig Jahren, im November 1868, erschien in der „Gartenlaube“ (Seite 735 u. 736) ein Artikel unter dem Titel „Der Mensch als Poststück“, in welchem die damals Aufsehen erregende Broschüre des Engländers Raphael BrandonEisenbahnen und Publikum“ (Railways and the Public, London 1868) sympathisch besprochen wurde. Sie schien einen ähnlichen Gedanken auszuführen und näher zu begründen, den zur selben Zeit ein origineller reicher Engländer in Paris praktisch erproben wollte: er kam nämlich auf ein Postamt und bat, daß man ihn mit Marken beklebe und zum postmäßigen Einheitsporto expediere.

Dreißig Jahre später, im August dieses Jahres, erschien die in der Mühlenstraße zu Rixdorf bei Berlin wohnende Frau P. eines Tages auf dem dortigen Postamt am Paketschalter in Begleitung ihres neunjährigen Knaben, überreichte dem Beamten eine vorschriftsmäßig ausgefüllte Paketadresse mit der Aufschrift: „Anbei ein Knabe und ein Bündel in grauer Leinwand“ und bat ihn, diese „beiden Gegenstände“ als Pakete nach Neuwedel in der Neumark zu befördern. Die Logik der sie belehrenden und sichtlich erheiterten Postbeamten, daß die Reichspaketpost wohl lebende Tiere, aber nicht lebende Menschen expediere, wollte der konsequent denkenden Frau aber nicht recht einleuchten, und kopfschüttelnd sowie anscheinend betrübt zog sie schließlich mit ihren beiden „Postkolli“ wieder von dannen.

„Der Mensch als Poststück“, zu einem billigen Einheitspreise frankiert und beliebig weit befördert, ist also immer noch ein unerreichtes Ideal geblieben, obwohl Brandon schon vor dreißig Jahren etwas Aehnliches wollte. In seiner erwähnten Broschüre schlug er nämlich vor, ohne Rücksicht auf die Entfernung für jede Eisenbahnreise in England nur den folgenden Einheitspreis – „Passagierporto“ nennt er ihn – zu erheben: III. Klasse 3 Pence (25½ Pf.); II. Klasse 6 Pence (51 Pf.); I. Klasse 1 Shilling (102 Pf.). Da 1865 jede Reise in England durchschnittlich 14 Pence (119 Pf.) kostete, so würde bei einer Verbilligung auf 3 Pence schon eine Verdreifachung des Verkehrs eine Mehreinnahme von 2 Millionen Pfund Sterling (40 Millionen Mark) ergeben haben; es sei aber mindestens eine Versechsfachung der Fahrten, folglich eine Mehreinnahme von 4 Millionen Pfund Sterling, oder bei Berücksichtigung dessen, daß 2/7 der Reisenden in der II. und 1/7 in der I. Klasse reisen, sogar eine Einnahmesteigerung von 143/4 auf 32 Millionen Pfund Sterling zu erwarten. Jener Artikel in der „Gartenlaube“ von 1868 schloß mit den Worten: „… Wir sehen keinen Grund, der eine Verwirklichung dieser Idee in anderen verkehrsreichen Ländern, speciell auf unsern deutschen Eisenbahnen, ausschlösse. Unbedenklich behaupten wir vielmehr: Brandons Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft … Wer kann uns somit widerlegen, wenn wir in Raphael Brandon den Rowland Hill[1] der Eisenbahn weissagen?“


  1. Der Urheber des neueren Einheitsportos für Briefe, 1840 in England zuerst eingeführt (Porto 1 Penny = 81/2 Pf.), in Deutschland erst 1868, also 28 Jahre später.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0847.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)