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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

der Welt in Verbindung. In dem tiefen, massigen Dunkel der Nacht, die bleiern über dem Frostreich brütete, henlten und johlten ununterbrochen die langgezogenen Sturmstöße, jetzt von Courmayeur her mit der Wut des welschen Föhns, jetzt wieder von Chamounix her mit dem eisig fegenden Nordost der schweizer Alpen im ewigen Spiel der brandenden Luftwellen wechselnd. Klagen und Jauchzen, Winseln und Lachen, wütendes Aufbrüllen und befriedigtes Grollen klang aus ihnen wie ein Widerhall des ganzen ewigen Kampfes ums Dasein auf der Erde, unter dessen Donnern und Pfeifen die Bergkolosse selbst zu wanken schienen.

Er öffnete das Fenster und spähte hinaus. Nun war es etwas heller. Ueber den hartgefrorenen Schnee hin huschte und flirrte es im Geistertanz – himmelhoch aufgewirbelte und pfeilschnell kreiselnde Säulen von Firnstaub, in der Dunkelheit unsichtbar und doch daran kenntlich, daß hinter dem Geflimmer der Krystallkörner das kalte Licht der Sterne sich verschleierte.

Wie eine Handvoll Nadeln peitschte ihm der Wind die spitzen Eissplitter ins Gesicht. Er schloß wieder das Fenster und setzte sich, in seinen Mantel gewickelt, den Rücken an die Wand gelehnt, auf die Pritsche.

Vielleicht ruhte er gerade auf dem Lager, auf dem vor wenigen Jahren jener Arzt aus Chamounix an Erschöpfung gestorben war! Er hatte den Montblanc besuchen wollen, und der Montblanc hatte ihn getötet. In dem einsamen Wetterhäuschen hier oben, 14000 Fuß über dem Meer, hauchte er seinen Geist aus.

Da draußen hatte er Leidensgefährten genug. Dicht vor der Thüre der Hütte war, im Schneesturm ratlos umherirrend, jener englische Gelehrte verschieden. Ein anderer, ein Russe, hatte sich etwas weiter oben im Eis zur ewigen Ruhe gelegt, und weiter seitwärts hatte man seinerzeit die ganze Expedition jenes italienischen Grafen – elf Männer – als Leichen am Firnhang gefunden. In der Gletscherspalte nicht weit davon ruhten die beiden Schotten, unter denen die trügerische Schneebrücke gewichen, an unbekannten Orten so mancher andere, unter ihnen, vielleicht hier ganz in der Nähe, auch Balmat de Montblanc, des Berges erster Bezwinger und sein erstes Opfer.

Jetzt war der Bergriese zahm. Die Menschen hatten ihn kennengelernt und fürchteten ihn nicht mehr. Selten, daß einer noch im Griff seiner Eisfaust verblieb. Aber heute, in wenigen Stunden, wurde ihm doch wieder eine Beute zu teil! – –

Er wußte es jetzt ganz genau, wie er da reglos, schweratmend lag, daß es zu Ende ging. Die stechenden Schmerzen krampften ihm die Brust zusammen, häufiger und häufiger stockten, für einen Augenblick Pulsschlag und Atem – es kam alles, wie es der Arzt gesagt hatte.

Aber es kam nicht früher, als er wollte. Er wollte noch einmal die Sonne sehen, wie sie über die höchste Warte Europas ihren ersten Strahl ergoß. Mochten andere hier in Nacht und Dunkel auf harten Pritschenlagern oder verloren in den schauerlichen Kerkern der Gletscherschlünde enden – ihn mußte sein Körper, der strapazengewohnte, dem Willen pflichtige, zum Licht, zur Höhe, zur Freiheit emportragen. Dort konnte er vergehen. Er hatte sein Bestes gethan und, was in ihm flüchtig und doch ewig wohnte, zur Ewigkeit der sonnenfrohen Höhen hinaufgeführt und dort entlassen. Mochte es hinauswehen, cüs ein zitterndes Wölkchen im Weltall sich verflüchtigen oder, im Vogelflug zur Erde niederkreisend, in einer anderen Menschenbrust von neuem nisten – wer weiß, woher es kam, wohin es ging. Und vielleicht wußte er es doch in wenigen Stunden …

Er preßte die Hand an die Brust und trat wieder zum Fenster. Die Nacht erstarb! Dort drüben im Osten blinzelte es fahl und grämlich auf, in einem leichenfarbenen Schein, der, rasch am Firmament sich ausbreitend, den Glanz der Himmelskörper in seinem matten Grau ertränkte. Goldene Ränder säumten da und dort dies Grau der um die Berge und unter ihnen dampfenden Wolken ein. Sie erhellten sich mehr und mehr. Ein seltsames, gelbes Dämmerlicht, wie man es nie in den Thälern schaut, schien, die Nacht vertilgend, aus den Poren des ewigen Firns selbst herauszuströmen, und im Osten flossen langgestreckte, rote Dunststreifen zu einer blutigen Lohe zusammen, die gleich dem Widerschein einer ungeheuren Feuersbrunst stumm und feierlich immer höher und höher am Himmel aufstieg.

Tiefer unten, wo sich der Firnpfad längs des Doms zum Großen Plateau hinabzog, lag noch tiefe Nacht. Aber auch in ihr sahen, als er dorthin den Blick wendete, seine erstaunten Augen etwas Fremdes, Lebendiges. Ein Lichtpünktchen, das, wie ein aus dem Thal verirrtes Johanniswürmchen, steil und beharrlich in dem weißlichen Dunkel aufwärts pendelnd, über den Schnee emporschaukelte.

Die Laterne einer Montblanc-Expedition! Er furchte die Stirne. Er hatte gehofft, daß bei dem heftigen Südsturm alle Führer die vom Plateau links abzweigende Route durch den „Korridor“ und über die beinahe fünfhundert Fuß hohe „Eismauer“ wählen würden, und sicher hatten auch alle anderen diesen beschwerlichen, aber windgeschützten Weg eingeschlagen.

Warum diese nicht? Und wer waren sie?

Er wußte es wohl. Und als die Laterne jetzt höher und höher herauf kam und im Tagesgrauen der Scharte verblaßte, da unterschied sein Blick schon deutlich drei Gestalten, eine lange und eine kleine und etwas Weißes, Schleierhaftes dazwischen, und der Wind wehte ihm, wie aus weiter Ferne, einen verhallenden, hellen Klang ins Ohr.

Er ergriff seine Eisaxt und stieg von der Hütte zu der beinahe ebenen, windumpfiffenen Firnfläche des Sattels nieder, auf dessen anderer Seite sich der Anstieg zum eigentlichen Montblanc, die Eisleiter der Grandes Bosses du Dromadaire, emporbäumte. Zu dreiviertel senkrecht aufgerichtet und kaum einen Fuß breit, lief die von Axthieben gekerbte, bläulich blitzende Firnschneide zwischen zwei riesigen Glasdächern in die Höhe, die jäh und spiegelnd unter ihr rechts und links Tausende von Fuß in das Thal, nach Frankreich und Italien abschossen.

Es war eigentlich noch etwas zu dämmerig, um jetzt schon die glitscherigen Sprossen dieser Himmelsleiter zu erklimmen, die, obwohl für den erfahrenen und schwindelfreien Bergsteiger gut gangbar, doch für jeden unbedachten Tritt eines Einzelgängers sein Leben heimfordert. Und zudem konnte der heulende Wind alles vereiteln. Ließ er auch wohl bei Tagesanbruch nach, so war doch die Gefahr, durch einen jähen Sturmstoß aus den Stufen geschleudert und in das Nichts hinausgefegt zu werden, während der ganzen Wanderung vorhanden.

Zum Glück konnte die Bezwingung des Dromedarhöckers kaum 25 bis 30 Minuten dauern, da er sich keine Eistritte auszukerben brauchte. Die am vorigen Tag geschlagenen Stufen des Lieutenants waren – das sah sein geübter Blick – noch zu benutzen. Und wartete er nur noch kurze Zeit, so kamen die drei da hinten und holten ihn ein. Hörte er doch im Morgennebel ihre Stimmen aus nächster Nähe.

Er warf seine Eisaxt über die Schulter wie der Soldat das Gewehr und ging im Sturmwind mit langen Schritten quer über den Firnsattel dem Montblanc zu.


24.

Die andern, die am schwanken Seil aus den Schneekesseln der Plateaus heraufstiegen, konnten ihn nicht erkennen. Der Wind fuhr ihnen zu schneidend in die Augen und umwirbelte sie mit seinen eiskalten Stacheln, daß sie blinzelnd und schauernd sich zusammenduckten. Und als sie dann die Hütte erreicht hatten, war die Gestalt ihres Vorgängers schon in den Nebelschwaden verschwunden, die, vom Föhn aus ihren warmen Thalnestern heraufgejagt und in unstetem Spiel auf- und niederschwimmend, die Firnleiter umhüllten.

Auf den bleichen Gesichtern der Touristen lag die Morgenstimmung, wie sie Uebernächtigkeit und Erschöpfung in der letzten Hälfte einer großen Besteigung zu erzeugen pflegt. Und für die beiden Männer war dies die zweite Besteigung innerhalb vierundzwanzig Stunden. Gestern um diese Zeit auf die Aiguille du diable, heute auf den Montblanc – es war ja wahrscheinlich, daß sie ihre Wette mit den aus den Grands Mulets ihnen nachfolgenden Mitgliedern des Londoner Alpine Club gewinnen und die beiden Gipfel hintereinander machen würden – aber im stillen ärgerte es sie doch, daß sie, gereizt durch die Ruhmredigkeit der Briten, von denen der eine, der lustige Graukopf, schon zwölfmal auf dem Montblanc gewesen war, sich des Wagstücks vermessen hatten. Sie fühlten doch das Biwak und die schwere Tagesarbeit von gestern in allen Knochen und saßen stumm und verdrießlich in der Vallot-Hütte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0871.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2020)