Seite:Die Gartenlaube (1899) 0011.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Ein paarmal wanderte er durch das Zimmer, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief zu beginnen, für den er das Blatt schon zurecht gelegt hatte.

 „Mein lieber, treuer, väterlicher Freund!

Ich danke Dir ehrlich und von Herzen! Und ich kann nicht schlafen gehen, bevor ich Dir das nicht gesagt habe. Als damals, nachdem das Schlimmste überstanden war, meine Aerzte befahlen: drei Monate nach dem Süden und dann ungestörte Ruhe in reiner Höhenluft! … als Du sagtest: Reise nur, und bis du wiederkommst, will ich für dich ein Flecklein Erde aussuchen, das dir gefällt und das dir Ruhe giebt! … sieh, Lieber, da wußt’ ich schon, wie treu und gut Du für mich sorgen würdest. Aber heute kam ich im Jagdhaus an und habe mehr gefunden, als ich selbst bei einer ungebührlichen Rechnung auf Deine Freundschaft erwarten konnte. Weiß Gott, ein herrlicher Fleck Erde! Welch ein stilles, trauliches Waldheim hast du mir da bereitet! Und Dank für die herzliche Absicht, mit der Du meine behagliche Stube von zu Hause hier nachgebildet hast! In ihr sitz’ ich und schreibe. Ja, Liebster, ich habe mich hier daheim gefühlt von der ersten Stunde an. O wie viel Ruh’ ist hier! Neun Stunden bis zur nächsten Stadt! So viel schöne Ruhe! Und sie beginnt auch schon zu wirken. Als ein Müder kam ich hier an, und jetzt fühl’ ich mich frisch und stillvergnügt – wirklich, ich bin ruhig! Kein Brennen meiner Wunde mehr. Wenn mich eines noch quält, so ist es nichts anderes als Bitterkeit gegen mich selbst. Kein Nachdenken über das Vergangene mehr! Nein, gedankenlos, nur von einem kalten Grauen durchrieselt, betracht’ ich all den Taumel, der mich ausgestoßen – wie ein aus tiefer Ohnmacht Erwachter den Wasserstrudel anstarrt, der ihn als einen halb Ertrunkenen ans Land geworfen hat.

Jetzt atme ich auf. Jetzt fühl’ ich mich erlöst auch von der letzten Kette dieser wahnsinnigen Leidenschaft, und weiß: jetzt bin ich frei!

Frei! Frei! Könntest Du doch dieses kleine Wort so lesen, wie ich es im Niederschreiben fühle! Frei! Frei! Und das war ich noch gestern nicht – noch weniger in den Tagen zuvor.

Ach, Liebster, diese Irrfahrtswochen im Süden, das war eine häßliche Zeit! Der Ekel schüttelte mich bis auf die Knochen – doch mitten in all dem bittern Nachgeschmack kam es mir immer wieder wie ein süßer Tropfen auf die Zunge – eine Erinnerung, die sich wie Sehnsucht fühlte! Dann fragt’ ich mich immer wieder erschrocken: lieb’ ich sie denn noch? kann ich sie denn noch lieben? Ich gab mir tausend- und aber tausendmal ein Nein zur Antwort. Aber es ließ nicht von mir! Und dazu noch diese Menschen, die mich mit ihrer cynischen Neugier immer wieder in die Unruh’ zurückstießen, kaum daß ich halbwegs zur Ruhe gekommen. Diese Begegnungen – ich sage Dir, es war wie ein Schicksal! Als hätte sich unser ganzer Kreis von zu Hause systematisch über meine Reiseroute verteilt, nur um mich zu martern – wo ich auch immer ging und stand, in Capri, Amalfi, Rom, Bordighera, Salò – überall lief mir einer über den Weg, und die erste Frage eines jeden war immer eine Frage nach ihr! Ich sage Dir, man wird in unserer guten Gesellschaft durch keine Großthat so berühmt, als wenn man sich vergißt und vom sauberen Trottoir des Lebens hinuntertappt in die Gosse.

Sogar heute früh noch, als ich in Innsbruck in den Wagen steigen wollte – wer steht vor mir? Der Edle von Sensburg! der ‚kleine süße Mucki‘ – Du weißt, wer ihn so zu rufen liebte! Dieser unausstehliche Kerl! Und seine erste Frage: ‚So allein, mein lieber Fürst?‘ Und dabei sah er sich um, als müßte er sie aus dem Hotelthor treten sehen. Ich hätte ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen mögen – aber ich that es nur mit der Antwort: ‚Allein? Gott bewahre! Ich reise mit meinem Kammerdiener!‘ Er nahm das für einen guten Witz, und ich wurde ihn nicht los, bevor ich nicht erfahren hatte, daß er von einem Tennis-Match käme – natürlich vom Karersee, diesem allerneusten Taubenschlag à la mode – und natürlich trug er auch eigenhändig das Lederetui mit dem geheiligten Rakett. Das vertraut er seinem Bruder nicht an – als Gleichnis gesagt, denn ich weiß nicht, ob er einen hat. Und als er mir’s abgequetscht hatte, wohin ich ging, schien er auf eine Einladung zur ‚Gamsjagd‘ zu warten – er sagt natürlich nicht Gemse, sondern ‚Gams‘, immer echt, der kleine süße Mucki – aber ich ließ ihn warten und den Kutscher fahren. Doch während der ganzen Fahrt verfolgte mich dieses Kattunmustergesicht – und immer roch ich seine peau d’ Espagne – er hatte, während er mit mir sprach, den Arm auf die Wagenlehne gestützt.

Um das Parfüm loszuwerden, nahm ich mir in Leutasch eine Bauernkutsche. Aber es half nicht. Jetzt quälte mich die Erinnerung an all die Tage und Nächte, die ich mit diesem Menschen verbrachte, weil sie es als lustigen Sport betrachtete, ihren scheckigen Narren aus ihm zu machen. Ich glaube fast, daß er ihr unentbehrlicher war als ich! Ach, zum Teufel mit all diesem Ekel! Ich bin ihn doch los! Was schwatz’ ich denn noch davon! Ja, ja und ja, ich bin erlöst, bin frei! Bin es seit heute – seit ich hier bin! Wie das so kommen konnte – ich begreife es selber kaum und fühl’ es wie ein Wunder, das an mir gewirkt wurde – ich weiß nicht, durch wen. Oder geschah mir wie einer Raupe, die sich in ihrer abgestorbenen Hülle quält und windet, bis diese plötzlich von ihr abfällt? Oder kam es anders? Vielleicht hat der Wald aus seinem schönen Schweigen zu mir gesprochen: sieh her, wie ruhig und still ich bin, sei du es auch! Und ich hab’s gehört, verstanden und befolgt.

Aber was soll ich nun in der glücklich gewonnenen Freiheit mit mir beginnen? Daß mich „neue Freuden“ nicht locken, begreifst Du – ich bin ein gebranntes Kind. Aber ich habe doch noch ein Leben vor mir. Was soll ich ihm geben? Heute und für lange Wochen bin ich zufrieden mit der Ruhe, die ich hier gefunden habe. Es redet so schön, mein Schweigen im Walde! Doch wenn mich der Winter von hier verjagt? Denn bis zum ersten Schnee will ich bleiben. Was dann? Arbeit? Gewiß, Arbeit! Doch welche Arbeit? ‚Da stock’ ich schon‘ … und bei Gott, ich muß mir’s erst überlegen, was ich schreiben will.“

Er warf die Feder hin und stützte eine Weile die Stirn in beide Hände. Dann erhob er sich, wanderte durch das Zimmer und trat ans Fenster. –

Aus der Stube, die unter dem Jagdzimmer des Fürsten lag, fiel ebenfalls die Helle einer Lampe über den Hof hinaus, doch nur als matter Schein, denn am Fenster waren die Gardinen vorsichtig zugezogen.

In dieser Stube saß Martin am Tisch, auf dem eine Briefmappe aufgeschlagen war. Er hatte eine schon halbgeleerte Flasche Bordeaux vor sich stehen, schmauchte eine Cigarette seines Herrn und hielt studierend den Federstiel in der Hand.

Der Klang der Schritte, welche gleichmäßig über seinem Kopfe hin und her wanderten, ließ ihn zur Decke blicken.

„Wenn ich jetzt wüßte, was er denkt da droben, dann wüßt’ ich auch, was ich schreiben soll!“

Bedächtig blies er eine dicke Rauchwolke über den Briefbogen hin und begann mit zierlichem Schnörkel die Ueberschrift:

 „Hochverehrte Frau Baronin!
 Meine gnädigste Gönnerin!

Obwohl ich Bemerkenswertes nicht zu melden habe, erlaube mir Frau Baronin doch heute noch eine Nachricht zu senden, um kurz zu berichten, daß unsere allverehrte Durchlaucht heute nachmittag, etwas angegriffen von der langen Fahrt, aber doch bei wünschenswert gutem Gesundheitszustand, im Jagdhaus eingetroffen sind.

Selbes liegt in einer vollständig unkultivierten und öden Berggegend, was vermuten läßt, daß es Durchlaucht nicht sehr lange hier aushalten werden. Für den Komfort Seiner Durchlaucht im Jagdhause selbst haben Graf Sternfeldt leidlich gesorgt.

Dagegen befinden sich die Zimmer im Fremdenhaus und auch das einzige Gastzimmer im Fürstenhaus in einem sehr primitiven Zustand. Letzteres Zimmer, welches von den Jägern das ‚Grafenstüberl‘ genannt wird, wurde durch mehrere Wochen von Graf Sternfeldt bewohnt. Das Meublement genügt kaum

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0011.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)