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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

goldenen Arabesken gestickte kostbare Haube. Der rote Rock heißt Anketò, die Schürze das Fuder, Furblätz ist das Brustvortuch, welches bei besonderen Gelegenheiten durch das Halsmottschior (wohl vom französischen Moùchoir) ersetzt wird. Von anderen Kleidervokabeln habe ich mir notiert: Chappo die Kappe, Brosttuech die Weste, Bruëch die Hose, Hose die Strümpfe, Wolemd die kurze Jacke, Schuë die Schuhe. Natürlich ändern sich diese Ausdrücke in den verschiedenen Gemeinden ab, so heißt beispielsweise der Kuß in Gressoney Schmock, in Issime Ciuppe (spr. Tschuppe!), und nur in Alagna, wie bei den Engländern, Kiß. Der Dialekt ist aber eher weich zu nennen und berührt angenehm durch die vollen Vokale der Endsilben, die in den schweizer Dialekten meist stumm sind. Lieblich klingt „Atto“, der Vater, und „Eju“, die Mutter. Wenn Paul Kind, der vor etwa zwanzig Jahren das Thal besuchte, große Anklänge an den Oberwalliser Dialekt herausfindet, so denkt er dabei an einen noch nicht romanisierten „Burgunder Zweig“, dessen letzte Ueberreste hier zu suchen seien. Und Bergmann in seinen „Untersuchungen über die freyen Walliser oder Walser in Graubünden und Vorarlberg“ vergleicht den von diesen gesprochenen Dialekt mit dem „Gressoneyrisch.“

Aus dem Gedichtchen, das mir ein alter deutschsprechender Mann mit dem französischen Namen De la Pierre aufgeschrieben, mögen als Dialektprobe hier zwei Strophen stehen, es heißt: „D’ Herta on d’ Sebētodsennē (die Hirten haben keine Sieben Todsünden).“

„Nid eine van dē sebuē Sennē,
Cham ’mo bi dē Herta fennē,
Drum hein’sch Gleck o’ Segē noa,
O’ frägēn witter nid durnca.

Der Hoffart chend dēm Hert nid z’ Sē,
Das cham ’mo an dschim Chleid ja gseh.
Welchom escht wiēr z’ em Hertē geid,
Das escht dēm Gitz va hiērsē leid.“

Das bedeutet in wörtlicher Uebertragung: „Nicht eine von den sieben Sünden, kann man bei den Hirten finden, drum haben sie Glück und Segen und fragen weiter nicht danach. Die Hoffart kommt dem Hirten nicht zu Sinn, das kann man an seinem Kleid ja seh’n; willkommen ist wer zum Hirten geht, das ist dem Geiz von Herzen leid.“

Vor Jahren hatte das Thal auch seinen Dichter, Louis Zumstein. Er hat viele Lieder im „Gressoneyersch“ geschrieben und den Volkston prächtig getroffen.

Bei den Hochzeiten spielten die Ansingelieder eine Rolle. Auch in Alagna war es Brauch, daß am Ende des Hochzeitsabendessens sich die Braut mit zwei Brautjungfern in ihr Kämmerlein verschloß, während draußen die Jünglinge lärmten und sangen.

Singend antworteten die Mädchen in der Brautkammer, Gegengesang von außen und so fort, bis die Thür sich öffnete, die Jünglinge und die Geladenen zugelassen wurden und die Braut die Hochzeitsgeschenke und die guten Wünsche entgegennahm.

Wein wird selbstverständlich im Thal von Gressoney nicht erzeugt, dessen oberster Ort, Gressoney la Trinité, etwa 1600 m hoch liegt, während der Wein in den Alpen schon bei 530 m zurückbleibt und hier im Piemontesischen, in Camperlongo, ausnahmsweise 970 m ersteigt. Aber die Landschaft von Ivrea leitet ihre purpurnen Quellen über den Berg und der „Carema“ macht im weltabgelegenen Thal die Winterabende belebt und helle.

Ein Trinkbares bereitet das Thal aber doch, das ist der berühmte Schnaps „Ebolebo“, der einheimische Name für die Schafgarbe Achillea atrata. Es war im Jahre 1846, daß ein Zumstein einen Sack voll getrockneter würzig duftender Blumen dieser Pflanze nach Turin brachte und bei einem Apotheker anfragte, ob dies Kräutlein nicht zu verwerten wäre. Es wurde ein Schnaps daraus destilliert, der besonders in England großen Anklang fand, und der „Chrüttler“ sammelt noch heute auf den Bergen seine Atrata. Das ist denn außer der Viehwirtschaft der einzige Erwerbszweig des Thales.

Das Volk von Gressoney lebt in der Frömmigkeit seiner Vorfahren und geht sehr gern in Prozessionen, die sich im Grünen so wunderschön ausnehmen. Am 24. Juni, dem Tage Johannis des Protektors, segnet der Pfarrer die Kinder; am 26. Dezember, St. Stephan, segnet er das Wasser; am 5. Februar, St. Agathe, Salz, Brot und Korn; jeden Sonntag betet er auf den Gräbern der Priester; jeden Freitag des Maimondes wandelt das gesamte Volk in Prozession zur Kapelle des heiligen Gratus, die auf der Grenze zwischen den beiden Gressoney liegt; zur Zeit der Dürre finden Prozessionen nach verschiedenen Kapellen statt.

Da kann man sie sehen, die derben und biderben Nachkommen der Zumstein, Steiner, Knobel, die sich heute Squinobel nennen, Biner, heute Bonda, Leiter, heute Scala, Thumiger, Barell, Lateltin, Lorenz, Real, Bieler, Schwarz, Thedy, Wolf, Lettri, Litschgi und Castell. Romanisiert wurden Schmidt, Ismann, Ronk, Wahler, die sich heute Ferrara, Ferro, Ronco und Guala schreiben. Alles deutet leider darauf hin, daß das vollständige Verschwinden dieser Sprachinsel in kurzer Zeit Thatsache sein wird. Die gute Straße, die nunmehr nach den südlichen Provinzen führt, wird dem Zug nach Norden über die Pässe des Monte Rosa Abbruch thun. Die Mädchen verheiraten sich mit Italienern, die Burschen dienen im italienischen Heere, werden italienisch gesinnt und sprechen italienisch.

Woher aber ist einst dieser deutsche Stamm gekommen? Wann schlug er seine Wurzeln in dieser Einsamkeit? Trieb ihn die Not hierher?

Vermutlich war das Thal im 10. und 11. Jahrhundert noch eine nur etwa von Kohlenbrennern und Grubenleuten bewohnte Wildnis gewesen. 1218 ordnete Landri, Bischof von Sion, einen Kanonikus ab, den Herrn Giacomo della Porta di S. Orso zur Entrichtung des Tributs aufzufordern. In der noch erhaltenen Urkunde werden die verschiedenen Lehnsgüter des Aostathales und seiner Seitenthäler aufgezählt; auch Gressoney wird genannt, aber nicht wie andere bewohnte Ortschaften, die mit villae, parocchiae bezeichnet werden, sondern als alpine Weide, besetzt im besten Falle mit Zufluchtshütten für Mensch und Vieh. Der Bischof von Sion im Wallis war also Lehnsherr dieser Gründe, und um sie sich für spätere Zeiten zu sichern, schickte er Walliser Bauern und Hirten über die Alpen, die in diesen Wildnissen wohl ihre Werkzeuge, aber keine Waffen brauchten, denn die Grafen belästigten die Ansiedler nicht, sie erkannten ihre nützliche Thätigkeit und Energie an und gaben den emporwachsenden Ortschaften ihren Schutz.

Mit dem Hirtenwesen blühte der Handel auf, und die Pässe, die vom Val d’Aosta ins Oberwallis führten, belebten sich ganz bedeutend. In der Münsterschen Kosmographie (Basel 1526) wird das Val Lesa das „Krännethal“ genannt. In der Berner Stadtordnung vom Jahre 1531 heißt es ausdrücklich: „daß die Aemter nicht an Schwaben und Grischtneyer (Gressoneyer) vergeben werden, es seien diese zu rührig und, einmal im Rath, würden sie die Wahrheit nicht sagen, sondern eitel Lügen.“

Diese von den Bernern gefürchtete Rührigkeit ist dem prächtigen Völklein noch heute eigen, und weil es sieht, daß die Zuneigung einer Königin seinem Thale neues Leben für die Zukunft verheißt, so rüstet es sich, seine Gäste würdig zu empfangen in Hotels und Gasthäusern.


Verhängnisvolle Sinnestäuschungen.

Von W. Hagenau.

Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört, und meine Sinne sind gesund und scharf; was ich aussage, ist darum richtig und wahr; ich kann es beschwören!“

Wie oft hört man nicht im Leben diese Behauptung! Sie ist im allgemeinen zutreffend.

Menschen mit gesunden Sinnen beobachten in der Regel richtig; aber der Mensch ist nun einmal nicht vollkommen. Ein zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Umstände kann es bewirken, daß selbst die schärfsten Sinne uns täuschen; oder es entstehen in unserem Innern verschiedene Stimmungen, die das geistige Gleichgewicht vorübergehend stören, und dann geschieht es, daß die seelischen Kräfte, welche die Sinneseindrücke zu Wahrnehmungen verarbeiten, uns einen schlimmen Streich spielen, das Gesehene oder Gehörte vergrößern oder verkleinern, verschieben und verzerren.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0058.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)