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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Insgeheim aber war sie ergriffen, wollte es nur nicht Wort haben und eilte durch die Küche in das kleine Bubenzimmer.

„Er soll mich suche,“ sagte sie zu sich selber, indem sie sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

Sie hörte ihn von draußen in seine Strohschlappen fahren; er ging in die Küche; nach einer Weile öffnete er die Thüre ins Schlafzimmer, blieb stehen und sah sich um; auch nach dem Nebenzimmer, in dem sie sich befand, lauschte er; dann trat er über die Schwelle, bei jedem Schritt innehaltend, und stand vor dem Tisch, in dessen Lade der Mann sein Schreibzeug hatte. Frau Stehle war eben im Begriff, hervorzustürzen, da sah sie, Polde hatte weiter nichts genommen als eine Korrespondenzkarte.

Als sie in die Küche kam, saß er am Tisch über seinem Schulheft; bei ihrem Eintritt hatte er rasch eine Seite umgewendet; so kindisch war er, sich einzubilden, sie merke nicht, was er trieb.

„Was schreibst du denn da?“ fragte Frau Stehle.

„Meine Aufgabe.“

Es zuckte ihr in den Fingern, und doch, sie wußte selber nicht warum: sie ließ ihn gewähren, machte sich hinter seinem Rücken am Herd zu schaffen und warf nur von Zeit zu Zeit einen Blick über des Knaben Schultern.

Polde brauchte eine Ewigkeit zu seinem Unternehmen; die Hundemarke lag vor ihm, obenan war ein kleines Schaf eingraviert, darunter ein Name. Dies kleine Schaf einigermaßen erkenntlich nachzuzeichnen, kostete Polde keine geringe Mühe; es nahm den halben Platz der Postkarte weg. Jetzt mußte er sich kurz fassen; er seufzte ein paarmal tief auf; Frau Stehle hinter ihm am Herd war ganz vergessen; sie konnte sein Machwerk getrost lesen:

 „Lieber Herr Dietrich in Straßburg.

Endlich habe Ich die Hundsmarkk verwischt kommen sie Schnell Er ist immer auf dem Schloßplatz.

 Ihr sieliebender
 Leopold Weber.“

Nun hatte er’s eilig, warf seine Sachen in den Ranzen, stolperte über einen Stuhl, vergaß die Mütze und hörte nicht, daß ihm Frau Stehle etwas nachrief. Sie hatte ihm sagen wollen, er müsse auch eine Adresse schreiben.

„Nun, so lauf!“ unterbrach sie ihr Vorhaben und warf die Küchenthüre hinter sich zu.

Es ging ihr so ganz eigen mit diesem Kinde: je mehr der Polde sie rührte, um so zorniger ward sie auf ihn; sie glaubte, es müßte sein, sie müßte seinen Trotz brechen, sein verschlossenes Wesen besiegen. Sie hatte ihn eines Morgens wieder nach Hause geschickt mit der Weisung, daß er sich nicht anders als in seinem guten Anzug vor ihr zeigen dürfe. Seither erschien er jeden Morgen so wie sie es ihm befohlen hatte, aber des Nachmittags kam er wieder in seinen alten Fetzen.

Das Wetter blieb sich immer gleich – Wind, Regen, Schnee, alles durcheinander, und der Hund und das Kind sahen alle Tage verkommener und elender aus. Dicht aneinander gedrängt standen sie da, als suchte eines bei dem andern Schutz und Wärme.

„Nun, wie steht’s, wie weit bist denn jetzt mit dem Aufsage?“ fragte Frau Stehle eines Tages wieder ihren Mann.

Der wurde ganz zornig: „Du hast kein Herz, du hast kein Gemüt – ich heiß das Kind nit gehe, ich ganz gewiß nit! Ich kann dich nit begreife, daß du den Bub’ nit reinrufst und ihm keinen Kaffee giebst.“

„Ich hab’ dem Polde gesagt, daß er mir in dem Aufzug nimmer unter die Auge komme darf,“ erklärte sie, „er soll folge; ich werd’ mich von dem Kind nit unterkriege lasse; er könnt’s ganz gut habe; wenn er nit will, so hat er’s halt schlecht!“

Nie hatte sie wütender gearbeitet als gerade jetzt, denn immerfort sah sie das Kind da draußen stehen, wo sie ging und stand; sie wußte ja, er wartete, er hoffte auf den Herrn des Hundes; er war so kindisch, zu glauben, seine Karte wirke Wunder!

Aber gerade wenn sie so recht voller Mitleid war, wenn sie sich vornahm: ich will ihm alles verzeihen, ich will recht freundlich mit ihm sprechen – da wurde es ihr jedesmal übel belohnt.

„Ich weiß nit, Polde,“ hatte sie zu ihm gesagt, „mir fehlt eine Korrespondenzkart’, hast du vielleicht eine rumliege sehe?“

„Nei.“

„’s könnt aber doch sein, besinn’ dich – schau, mit einem offene Wort kann man mich um den Finger wickle, – hast keine Korrespondenzkart’ genomme?“

„Nei.“

Sie hätte ihn schütteln mögen. Was war denn mit so einem anzufangen? Sie dachte an seine Eltern. Wußten sie, daß ihr Kind log und betrog? War es nicht eigentlich ihre Pflicht, diesen Leuten zu sagen, was sie vom Polde hielt?

Aber wenn sie ihn dann prügelten – dieses magere, elende Körperchen. –

Sie war gerade wieder einmal so weit mit ihren Gedanken, als sie durch ein markerschütterndes Hundegeheul von ihrer Beschäftigung aufgeschreckt wurde. Sie ließ alles stehen und liegen und eilte hinaus; die ganze Nachbarschaft war an den Fenstern. Mitten auf der Straße aber stand ein breitschulteriger Mann in einer Pelzmütze, und um ihn herum sprang der Schloßplatzhund in rasenden taumelnden Sätzen; er leckte dem Mann die Füße, er zerrte ihn am Rock, legte ihm die Tatzen auf die Schultern und seufzte und jammerte wie ein Mensch.

Der Fremde sagte zu Stehle, der auch herbeigekommen war:

„Bin froh, daß ich meinen Lux wieder hab’, so versteht keiner das Vieh zu treiben wie der. Im Spätjahr ist er mir auf der Bahn hier abhanden gekommen; ich hatt’ ihn im Wirtshaus an den Tisch gebunden und vergessen. Ich dank’ auch schön für die Nachricht.“

Der Mann ging rasch davon, von dem Hund unter stürmischem Jubelgebell begleitet. Polde sah ihm nach; mit offenem Mund stand er da, die Hände in den Taschen.

„Komm herein!“ rief Frau Stehle, als der Besitzer des verwahrlosten Hundes glücklich mit diesem von dannen gezogen war; ihr Mann trieb den noch immer ganz verdutzten Polde vor sich her in die Küche.

Der Mann war in großer Freude über den Vorfall. „Jetzt ist das arm’ Tier erlöst – das ist schön, das ist schön!“ rief er ein über das andere Mal aus.

Polde war still wie immer.

Frau Stehle sah ihn zornig an; nun saßen sie so nett beisammen in der kleinen blanken Küche, hätten sie sich nun nicht miteinander über das Ereignis freuen können? Aber nein, der Bub’ machte sein altes finsteres Gesicht, aus dem kein Mensch klug zu werden vermochte.

Frau Stehle schob ihm eine Schüssel Kaffee hin. „So, jetzt ist’s aus mit deiner Hundekomödie! was hast nun gehabt für all deine Müh’? Gelt, jetzt hast’s verschmeckt, wie Undank thut?“

Polde sah sie groß an. „Ich hab’ ja gesehe, wie er sich gefreut hat!“

Stehle lachte gutmütig über diese Antwort; die Frau schwieg; sie hatte sich dem Herd zugewendet, so trank sie mechanisch ihren Kaffee.

Vor Stehle stand die rotlackierte Zuckerbüchse mit den goldenen Sternchen; er nahm ein Stück Zucker, warf es dem Buben in die leere Schüssel und schob diese über den Tisch: „Alte, er hat noch Hunger.“

Die Frau schenkte die Tasse voll, der Mann schnitt ein Stück Brot dazu. Der Knabe aß und trank mit der Gier eines Halbverhungerten; immer wieder schob der Mann die Schüssel über den Tisch, und ohne ein Wort zu sprechen, schenkte sie die Frau voll. Eine eigene Stille herrschte in dem engen freundlichen Raum, mit den blinkenden Messinglöffeln an den Wänden und den Schäften voll glänzender Töpfe und Gläser.

Aus Poldes Brust brach sich ein tiefer Seufzer; er sah ganz verwundert drein; jetzt erst wurde er sich’s bewußt; er hatte ja immerfort gegessen, immerfort. – Verlegen schob er seine Schüssel zurück, bald nach Herrn Stehle, bald nach dessen Frau schielend. Plötzlich erhob er sich und schlich wie ein Dieb auf den Zehenspitzen zur Küche hinaus.

Frau Stehle machte sich über das Geschirr her, und der Mann saß noch immer stumm auf seinem Platz. Mit einem Male schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen tanzten. „Du hast den Bub’ halb verhungern lassen – du, ja, du!“

Wütend sprang er auf und schoß zur Küchenthüre hinaus.

„Bin ich denn seine Mutter,“ schrie ihm die Frau nach, „bin ich denn seine Mutter?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0088.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2020)