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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Lebens, so verheißungsvoll, so rein! – Still, das ist es ja nicht, wovon ich erzählen wollte!

Aber die Welt war unerhört schön damals, sogar bei Regenwetter, das ist sicher.

An einem herrlichen Sonntagnachmittag mitten im Sommer saßen Toni und ich im allerhintersten Winkel unseres Gartens, wo die hohe Lindenwand denselben von der Straße trennte. Toni, ein Bild scheußlicher Häßlichkeit, war meine große Puppe, von mir aufs innigste und mütterlichste geliebt und aufs sorgsamste behütet. Wir hatten uns hierher zurückgezogen, weil mich die großen Jungen mit meiner Puppenmutterei zu necken pflegten, wie ich denn überhaupt damals der Ueberzeugung lebte, daß die großen Brüder ausdrücklich zur Strafe für die kleinen Schwestern vom lieben Gott erschaffen wären.

In angenehm erreichbarer Nähe standen Stachelbeerbüsche, allerlei unmoderne Blumen, für die mein Vater eine Vorliebe hatte, Akelei, Rittersporn, Eisenhut, blühten um uns her; der Jasmin und die Centifolien dufteten stark und süß, die guten, emsigen Bienen summten lustig von Blume zu Blume, zarte Schmetterlinge gaukelten von Zweig zu Zweig und setzten sich mir fast auf die kleine Hand; ganz von ferne hörte man das Rufen und Lachen von Kindern, Ameisen bauten zu meinen Füßen eine schmale Landstraße quer über den Fußsteig. Mit einem Worte, es war ein richtiger Sommersonntagnachmittag.

„Minnie, Minnie!“ scholl es da durch den Garten, und gleich darauf erschien Lotte, wegen ihrer dünnen unteren Gliedmaßen „Weff Hühnerbein“ genannt, auf der Bildfläche. Lotte war meine ältere Schwester. Sie teilte, obgleich sie mir an Jahren erheblich überlegen war, meine Puppenliebhaberei, und wir waren deshalb sehr befreundet. „Komm flink, Minnie!“ rief sie schon von weitem, merkwürdigerweise ohne sich bei den Stachelbeeren aufzuhalten, „komm flink, Heine Hamm will predigen!“

„Ist wahr?“

„Ja, komm nur geschwind, ehe er anfängt!“

Nun war das allerdings sehr verlockend, denn Heine Hamm predigen zu hören, war ein von uns allen hochgeschätzter Genuß, und ich war Lotte wirklich zu großem Dank verpflichtet, weil sie mich gerufen hatte. Das thaten die anderen Großen nie, wenn sie etwas Besonderes vorhatten; im Gegenteil suchten sie sich der „Kleinen“ oft auf eine schon nicht mehr schöne Weise zu entledigen, wenn es ein gemeinsames Unternehmen galt. Nur Lotte, die gute Seele, nahm sich meiner in solchen Fällen schwesterlich an.

In aller Eile wurde Toni in ihren Wagen gepackt, und dann liefen wir, Lotte und ich, selbander im schnellen Trabe – bei dem Lottes dünnes Gebein dem meinigen immer weit voraus war – aus dem Garten durch die weiße Pforte in den Nachbarhof.

Dort stand schon eine ganze Schar von Kindern versammelt, mitten unter ihnen der redegewaltige Heine Hamm.

Heine Hamm war ein großer, beinahe schon erwachsener Junge mit allerlei körperlichen und geistigen Gebrechen: ein wenig lahm auf dem einen Fuß, ein wenig steif auf dem einen Arm, und ach, weit mehr als ein wenig wunderlich in seinem armen Kopfe, unfähig zu irgend einer nützlichen Wissenschaft oder Hantierung, aber ein ganz harmloser und vollkommen glücklicher Mensch. Denn in einer absonderlichen Laune hatte die Natur ihm eine einzige Gabe verliehen, die ihn für alles entschädigte, was er sonst entbehrte: ein ganz wunderbares Gedächtnis.

Lange Predigten und Reden, deren Sinn zu fassen ihm nie gelang, behielt Heine dem Wortlaute nach tagelang in der Erinnerung, bis endlich ein neuer Eindruck den alten auslöschte, als wäre sein Gehirn eine Tafel von fest begrenztem Umfange, die man vollschreiben konnte, um dann nach einiger Zeit das Geschriebene wieder wegzuwischen, damit für Neues Platz werde.

Bei keiner Predigt, keiner kirchlichen Trauung, keinem Begräbnis fehlte Heine, und um ihn völlig glücklich zu machen, bedurfte es nur einer Kinderschar, die sich nachher um ihn sammelte und ihn zum Predigen aufforderte. Dann wiederholte er das Gehörte in derselben feierlichen und eindringlichen Weise, mit denselben begleitenden Gesten, wie er es vernommen hatte, und er entließ uns endlich mit dem Bewußtsein, ein gutes Werk an uns vollbracht zu haben, da er im allgemeinen die Welt sehr verderbt fand.

Heute nun hatte Heine einer Trauung beigewohnt. Als Lotte und ich anlangten, hatte man gerade im Rate der Großen beschlossen, Heine nicht so ganz zwecklos predigen zu lasten, sondern, um die gute Gottesgabe seines Redestromes nicht zu vergeuden, einmal wirklich Hochzeit zu spielen.

Dazu bedurfte man nun allerdings zunächst eines Brautpaares, und siehe da, Trauung spielen wollten wohl alle, aber niemand wollte die Braut und niemand wollte der Bräutigam sein.

Der eine fand diesen, der andere jenen außerordentlich geeignet für diese Rolle, nur an sich selbst konnte niemand Talent dafür entdecken. Man stieß sich, man lachte, man versteckte sich, und endlich, nachdem die Großen ein paar Minuten die Köpfe zusammengesteckt hatten, schlug jemand vor, daß man losen wolle.

Gut. Wir versprachen alle, uns dem Lose als einem unabwendbaren Schicksal unterwerfen zu wollen. Mile Kark, ein großes Mädchen mit roten Haaren, hielt mir zuerst die fest geschlossene Faust hin, aus der eine Anzahl von Grashalmen hervorsah, „denn du bist die Kleinste,“ sagte sie, „und bei den Kleinsten fängt es immer an.“

Ein wenig zaghaft zupfte ich mir einen Halm hervor.

„Du hast schon den kürzesten!“ rief Mile Kark und warf alle anderen Halme fort. „Minnie ist die Braut, sie hat das kürzeste Los gezogen!“

Nun hätte ich in meiner Unschuld aus mir selbst heraus wahrscheinlich gar nichts dagegen gehabt, auch einmal eine Braut zu spielen. Stellten wir doch in unseren Spielen oft genug alles mögliche und unmögliche vor, ohne daran Anstoß zu nehmen. Da ich aber sah, daß alle Großen sich weigerten, setzte sich natürlich sofort bei mir die Vorstellung fest, daß ich damit etwas Unpassendes und Lächerliches thun würde.

„Aber nein!“ rief ich deshalb erschrocken, „ihr anderen sollt auch erst ein Los haben!“

„Das ist nicht nötig, wir wissen schon, daß dies das kleinste ist.“ erscholl es im Chor, in den, glaube ich, nur meine brave Lotte nicht einstimmte, während Gustchen, meine andere Schwester, sich lieb- und treulos gänzlich auf Seite der Tyrannen schlug.

Bei den Knaben schien man unterdes ein ähnliches abgekürztes Verfahren angewendet zu haben, denn auch von dort erschollen von allgemeinem Widerspruch übertönte Proteste. Der mir zugedachte Hochzeiter war ein mir fast fremder Junge, Eduard Callsen mit Namen, schon erheblich größer als ich, aber doch immerhin einer von den Kleinen. Ich hatte, glaube ich, noch nie ein einziges Wort mit ihm gesprochen, denn seine Großmutter, bei der er lebte, war erst vor kurzem in unser Städtchen gezogen.

Ja, da half nun nichts: was die Schickung schickte, mußten wir ertragen. Nie hat wohl der grausame Zwang der Verhältnisse ein widerstrebenderes Paar zusammengeführt wie Edu Callsen, meinen Bräutigam wider Willen, und mich!

Ich wiederholte ebenso unermüdlich wie fruchtlos: ich wolle nicht getraut werden, während man in aller Geschwindigkeit die große Scheunendiele des Nachbars mit Blumen und grünen Zweigen festlich herrichtete. Ich schluchzte zum Herzbrechen, als man mir zu dem weißen Mullkleidchen, das ich ohnehin trug, ein Stück Gardine von zweifelhafter Weiße als bräutlichen Schleier und einen dicken Kranz aus Buchsbaum in den krausen Haaren befestigte. Und ich schritt endlich als tiefgebeugtes Opfer menschlicher Ungerechtigkeit an der Seite meines aufgezwungenen Bräutigams, der mürrisch mit den Händen in den Taschen neben mir herging, ohne mich auch nur von der Seite anzusehen, zu dem aus einer leeren Kiste improvisierten Altar, an dem uns Heine Hamm, angethan mit einem schwarzen, bis an den Hals hinaufgehenden Frauenkleiderrocke, bereits erwartete. Der Hochzeitszug folgte in bunter Reihe. Man hatte uns veranlassen wollen, Arm in Arm dahinzuschreiten, aber keine Macht der Welt hätte uns dazu gebracht.

Nur eines gewährte mir einen leisen Schimmer geheimen Trostes, daß nämlich meine beiden großen Brüder, die mit ihren fünfzehn und sechzehn Jahren sich über solche Kindereien natürlich längst erhaben fühlten, nicht zugegen waren, um mich in meiner Erniedrigung zu sehen, denn ich war weit davon entfernt, diesen Tag als meinen Ehrentag zu betrachten wie andere Bräute.

Die übrigen fanden es indessen sehr naturgetreu und passend, daß ich so gerührt erschien, und Heine Hamm hielt eine Traurede, welche gewiß außerordentlich schön und angemessen war, denn das Paar, welchem sie vor einigen Stunden ursprünglich gegolten hatte, bestand aus einem älteren Witwer mit fünf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0115.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2020)