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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wege mit einem sonderbar frohen und glücklichen Gefühl, wie man es wohl manchmal früh beim Erwachen hat: als müßte jetzt etwas recht Schönes sich ereignen.

Natürlich war das dumm von mir, und wenn ich darüber nachgedacht hätte, würde ich das selbst gefunden haben; ich fühlte nun aber einmal so, und ich dachte nicht darüber nach. Vielleicht habe ich damals auch gemeint, ich freute mich nur über das schöne Wetter; das weiß ich nicht mehr.

Das Fest nahm seinen programmmäßigen Verlauf. Die Kinder tanzten, aßen Kuchen und tranken Limonade, bis sie an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen waren und widerstrebend nach Hause befördert wurden; dann wurde der Saal geräumt, und während er aufs neue für die Erwachsenen in Ordnung gebracht wurde, trank jedermann zu Hause Thee, die Backfische warfen sich in ihren duftigen Ballstaat, wir anderen jungen Mädchen steckten uns bescheiden zu unseren hellen Sommerkleidern ein paar Astern oder eine späte Rose ins Haar und an die Brust, und der Jubel konnte von neuem angehen.

Zuerst gehörte das Feld allein den Backfischchen, die im ganzen Hochgenuß ihres ersten Balles schwelgten, und den erwachsenen Schülern, von denen zwei überjährige Primaner sogar einen Frack trugen; wir „Alten“, die wir ja eigentlich nicht dazu paßten, hielten uns anspruchslos im Hintergrunde. Aber als der Abend weiter vorrückte, wagte sich bald hier, bald da ein „Jubelpaar“ unter die grüne Jugend, und als der Cotillon nahte, ließen selbst die ältesten Meergreise ihr Bier und ihren Skat im Nebenraume im Stich, unb eine wahre Tanzwut schien in die ganze Honoratiorengesellschaft gefahren zu sein. Kaum daß sich Lotte auf ihre Tugend und geistliche Würde besann.

Vor mir verbeugte sich ein blonder, junger Mann mit hübschen, guten Augen, und mit einem Lächeln sagte er:

„Ich bin zwar nur ein sehr fragwürdiger Tänzer, Fräulein Andersen, aber würden Sie mir in Anbetracht meiner gestrigen verdienstvollen Leistung wohl als Belohnung den Cotillon schenken?“

„Ja, gerne,“ sagte ich vergnügt und legte meinen Arm in den seinen.

„Diesmal haben Sie mir ihn doch nicht verweigert,“ meinte er, wieder mit dem mir unverständlichen Seitenblick, als wir dahinschritten.

„Diesmal? Wieso? Ich wüßte nicht, daß ich früher schon einmal in der Lage gewesen wäre.“

„Doch! ein bißchen lange ist es freilich her, aber mir ist es doch noch recht deutlich erinnerlich. Mit Erlaubnis zu sagen, sehr höflich waren Sie damals gerade nicht gegen mich.“

„Aber haben wir uns denn überhaupt schon jemals vor gestern gesehen?“ fragte ich immer verblüffter.

Er lachte. „Ach Gott, wir sind sogar – Fräulein Andersen, erinnern Sie sich vielleicht aus Ihrer Kindheit eines ziemlich tölpelhaften Jungen, den Sie ungefähr so gern leiden mochten wie einen Regenwurm oder eine Spinne?“

„Ja!“ sagte ich errötend, „aber das sind – Sie heißen doch nicht – entschuldigen Sie, aber ich habe vorhin Ihren Namen nicht recht verstanden und mochte nicht nachfragen – Sie sind doch nicht –“

Er verbeugte sich. „Ich kann es leider nicht leugnen, mein Name ist Callsen – Eduard Callsen. Es ist allerdings, wie gesagt, ein wenig lange her, seit wir uns gesehen haben, aber vielleicht entsinnen Sie sich nun doch. Wir sind ja sogar –“ er brach wieder ab, fing an zu lachen und fuhr dann fort: „Wir haben uns damals rechtschaffen verabscheut, Fräulein Andersen, aber nicht wahr, wir wollen nun die Fehde nicht aufs neue entbrennen lassen?“

„‚Ritter Ewald‘,“ sagte ich unwillkürlich und unbedacht leise und ärgerte mich dann sofort schmählich über das dumme Wort.

„‚Neben Minna‘,“ fügte er ebenso leise hinzu, auf mich niedersehend, und dabei schien er sich durchaus nicht zu ärgern, wenigstens sah er sehr vergnügt aus.

Ich will es nur gleich gestehen, wir sind nachher überhaupt sehr vergnügt miteinander gewesen, und die Streitaxt haben wir vollständig begraben an jenem denkwürdigen Abend. „Ritter Ewald“ hatte durchaus nichts mehr von einem Hans Huckebein an sich, wenn ich auch allerdings Leute gekannt habe, die besser walzten. Er sagte, er hätte mich gleich erkannt, als er mich aus dem Wasser gezogen hätte, und ich glaube fast, eigentlich rechnete er es sich zum besonderen Verdienst an, daß er mich trotzdem nicht darin hatte stecken lassen.

Als er sein Bouquet zu verschenken hatte, weihte er es mir, und ich schmückte ihn dafür mit einem Orden als einer Verdienstmedaille, die er sich rechtmäßig erworben hatte. Ich weiß nicht, es kommt mir vor, als wenn es wirklich ein ungewöhnlich hübscher Cotillon gewesen wäre. Nur ein wenig aufgeregt hatte mich das Tanzen wohl, denn ich schlief nachher die ganze Nacht nicht, bis zum Morgen.

An einem der nächsten Tage machte „Ritter Ewald“ Besuch bei uns. Er gefiel meinem Schwager recht gut und Lotte nahm ihn sofort in ihren mütterlichen Schutz und wirkte pädagogisch auf ihn ein. Dies schien ihm jedoch nicht unangenehm zu sein, denn er kam, nachdem er sehr bald danach eingeladen worden war – der Lebensrettung wegen – dann aus alter Feindschaft recht oft von selbst und – ja – ich weiß nicht recht, wie man so etwas sagt, es ist so schwer, die richtigen Ausdrücke zu finden – genug, ich will nur lieber schlankweg erzählen, was eines schönen Tages passierte.

Eines schönen Tages also, als unsere neue Bekanntschaft ungefähr zwei Wochen gedauert hatte, traf mich Doktor Callsen allein zu Hause. Es war schon dämmerig, und er war, wie er sagte, gekommen, um ein Buch von meinem Schwager zu leihen.

Es war ein schöner Spätsommerabend, und ich ging, ein leichtes Tuch um die Schultern geschlagen, im Garten spazieren, als er durch die Pforte eintrat.

„Bedaure, Herr Doktor,“ sagte ich, auf ihn zugehend, „die Geschwister sind ausgegangen.“

„Ich nehme auch mit Ihnen fürlieb, Fräulein Minna,“ entgegnete er und sah mich an. So hatte er mich noch nie genannt und auch noch nie angesehen. Mir wurde ein bißchen unbehaglich.

„Das war unverschämt gesagt, nicht wahr?“ fragte er, und dann faßte er plötzlich nach meiner Hand.

„Fräulein Minna – Minnie – kümmern Sie sich nicht darum, wie das klingt, was ich sage! Kümmern Sie sich nur darum, wie ich es meine! Ich sah Ihre Geschwister ausgehen und bin absichtlich gekommen, um Sie allein zu treffen. Ich muß Ihnen durchaus etwas sagen. Ich habe Sie so sehr lieb – und da Sie doch eigentlich von Rechts wegen schon meine Frau sind, wollen Sie nun nicht auch meine liebe, süße Braut sein? Es ist ja doch klar: das Schicksal hat uns für einander bestimmt.“

Ich weiß nicht, ob ich etwas that, was ihn dazu berechtigte – ich glaube es entschieden nicht – ich entsinne mich nur, daß ich ihn ansah und die Lippen zu einer Antwort öffnete, aber ob er das nun mißverstand – er legte mir plötzlich den Arm um die Schultern, zog mich an sich und küßte mich.

„Und das war unverschämt gethan!“ sagte er darauf, lachte und küßte mich noch einmal mitten auf den Mund.

Ja, was sollte man da nun machen? Getraut waren wir lange, zwei Küsse hatte er mir auch gegeben, und zurückgeben kann man die ja leider nicht, ohne sich noch mehr zu kompromittieren – ich sah es ein, mir blieb nichts übrig, als mich noch ein wenig fester in seinen Arm zu schmiegen und mein Gesicht an seiner Schulter zu verbergen.

Als die Geschwister heimkamen, saßen „Ritter Ewald“ und die Minna „in des Gartens dunkler Laube“ und waren verlobt.

Zum zweitenmal getraut wurden wir dann freilich noch lange nicht. Drei Jahre haben wir auf einander gewartet, denn „er“ hatte weder Geld noch vorläufig ein festes Amt, und ich war auch nur eine Kirchenmaus. Dann aber haben wir eine Hochzeit gemacht, die sich sehen lassen konnte, und wenn ich dabei geweint habe, so sind es Freudenthränen gewesen.

Schwager Paul traute uns, Lotte und Gustchen schmückten mich mit Kranz und Schleier, die Brüder aber – auch Parkau war dabei – die alle mit Frauen und Kindern als behäbige Leute in Amt und Würden angereist kamen, sangen am Polterabend dreistimmig mit vielen passenden Variationen das schöne Lied:

„In des Gartens dunkler Laube
Saß am Abend, Hand in Hand,
Ritter Ewald neben Mnna,
An die Teure festgebannt.“

Ja, sie hatten sogar die Keckheit, uns, als vor ein paar Jahren unser Aeltester getauft werden sollte, einmütig den Vorschlag zu machen, wir möchten ihn doch Ewald nennen, worauf wir aber natürlich nur mit schweigender Verachtung antworteten.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0120.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2020)