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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Man bedenke nur folgenden, aus dem Leben gegriffenen Fall. Es kommen sich zwei Dampfer, die mit voller Fahrt 20 Knoten laufen, im Nebel entgegen. Beide haben ihre Fahrt bis auf 16 Knoten ermäßigt (was leider aber fast nie geschieht) und sie sehen sich bei Nebel oder Schneetreiben im günstigsten Falle auf 400 m zuerst. 16 Knoten entsprechen einer Geschwindigkeit von 8 m in der Sekunde und beide nähern sich in dieser Zeit einander um 16 m; dann haben sie, um auszuweichen, gerade 25 Sekunden Zeit, die sich natürlich noch verkürzt, wenn sie ihre ursprüngliche Fahrt beibehalten haben. Nun, wie soll in dieser Zeit der Schiffsführer ausweichen? Er mag noch so viel Geistesgegenwart besitzen, noch so prompt die richtigen Befehle geben: sie können einfach nicht ausgeführt werden. Ehe einmal das Ruder gedreht werden kann, das Schiff ihm gehorcht oder die Maschine zum Zurückschlagen kommt, ist das Unglück unvermeidlich geschehen und die Schiffe prallen mit einem Bewegungsmoment aufeinander, das furchtbar ist, Geschwindigkeit mal Gewicht, d. h. 16mal 200000 oder noch mehr Centner. Solche Verhältnisse sind Ursachen der meisten Zusammenstöße und an ihnen trägt lediglich der unglückliche Ausdruck „mäßig“ des betreffenden Paragraphen die Schuld. Dies Wort muß aus dem Gesetze entfernt und durch eine bestimmte Geschwindigkeit ersetzt werden, und zwar von 5 bis 6 Knoten. Ich weiß sehr wohl, daß viele Reeder großer Passagierschiffe behaupten, die letzteren wollten bei so geringer Fahrt nicht steuern, halte das aber nur für eine nicht stichhaltige Ausflucht. Weshalb ist eine solche Fahrt denn unsern großen Kriegsschiffen bei Nebel etc. vorgeschrieben und weshalb steuern sie? Unser großer Kreuzer „Kaiserin Augusta“ von 118 m Länge und über 22 Knoten Fahrt geht doch durch den Kaiser Wilhelm-Kanal, wo nicht schneller als mit 6 Knoten Schnelligkeit gefahren werden darf. Das sind also nur Ausreden; aber selbst, wenn für ausnahmsweise große Schiffe 7, ja sogar 8 Knoten gestattet werden müßten, so wäre auch damit schon viel gewonnen; dann hätten bei 400 m Sehweite die Schiffe doch nahezu eine Minute, mit 6 Knoten 11/4 Minute zum Ausweichen Zeit, abgesehen davon, daß die Gewalt des Stoßes so bedeutend geringer und weniger gefährlich würde.

Natürlich kann eine solche Bestimmung nur Erfolg haben, wenn sie innegehalten wird, und dies geschieht leider in den meisten Fällen nicht. Wer trägt aber die Hauptschuld daran, die Kapitäne oder die Schiffseigentümer? Ich behaupte: fast immer die letzteren. Mir ist nur eine transatlantische Linie, die englische Cunard-Linie, bekannt, die ihren Kapitänen strenge Befehle erteilt, im Nebel etc. die Fahrt auf ein Minimum zu ermäßigen, und meines Wissens ist sie von Zusammenstößen verschont geblieben. Bei den meisten anderen Linien bestehen solche Befehle nicht, es wird mit voller Fahrt drauf los gerast, und das muß unter allen Umständen aufhören.

Das können aber nur sehr scharfe Strafbestimmungen bewirken, an denen es bis jetzt fehlt. Jeder Schiffsführer oder Wachhabende, dem nachgewiesen wird, daß er unter den beregten Witterungsverhältnissen zu schnell gefahren ist – ob ein Unglück daraus entstanden ist oder nicht – muß kriminell bestraft werden.

Das würde nach Erlaß eines solchen Gesetzes freilich selten eintreten, denn die Schiffsführer wissen sehr wohl, daß sie bei einem Zusammenstoße ihr eigenes Leben riskieren, aber sie befinden sich bis jetzt in einer Zwangslage. Man versetze sich nur an die Stelle eines solchen Mannes, der z. B. mit einem Konkurrenzdampfer gleichzeitig den Hafen verläßt, aber so und so viel später am Bestimmungsorte eintrifft, weil er Nebel getroffen und seine Fahrt bedeutend ermäßigt hat. Was wird die Folge bei seiner Rückkunft für ihn sein? Keinesfalls wird er vom Reeder freundlich empfangen, und wenn er noch öfter das Unglück hat, gewissenhaft zu sein, dann wird der Reeder zu ihm sagen: „Es thut mir leid, Sie entlassen zu müssen. Sie sind ein ganz tüchtiger Mann, aber Sie fahren nicht glücklich.“

Was bleibt dem armen Manne übrig, als das nächste Mal „glücklicher“ zu fahren, d. h. mit voller Fahrt durch Nebel und Schneetreiben zu preschen, um nicht aufs Trockene gesetzt und brotlos zu werden. Eine Appellation giebt es für ihn nicht, auf Entschädigung hat er keinen Anspruch.

Das muß aber mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden und das Gesetz muß die Reeder veranlassen, daß sie unter keinen Umständen die Gewissenhaftigkeit der Kapitäne ungünstig beeinflussen. Und das geschieht am sichersten und einfachsten dadurch, daß ihnen die volle Haftpflicht für allen Schaden auferlegt wird, der durch zu schnelles Fahren ihrer Schiffe entsteht. Ist das nicht nur gerecht und logisch? Werden nicht alle Eisenbahnen in ähnlicher Weise haftbar gemacht; weshalb sollen die Reeder in gleichen Fällen frei ausgehen? Die höchste Strafe für einen Schiffsführer, der gegen die Vorschriften des Seestraßenrechts bewußt fehlt, ist Patententziehung und Geldstrafe bis zu 1500 Mark und nach dem Strafgesetz des Deutschen Reiches bis zu 5 Jahren Gefängnis, wenn Menschen dabei zu Tode kommen. Ist dies eine Sühne für den Verlust von Hunderten von Menschen, die durch seine oder indirekt des Reeders Schuld ihr Leben einbüßen?

Was kommt es darauf an, ob die Schiffe 8 oder 10 Stunden früher oder später eintreffen, wenn es sich darum handelt, so viele Menschen dagegen zu sichern, daß sie einer gewissenlosen Gewinnsucht und dem Konkurrenzneide zum Opfer fallen? Daß Handel und Verkehr durch solche Beschränkung irgendwie erheblich leiden sollten, ist auch nur eine Legende. An und für sich ist ja eine solche Schnelligkeitskonkurrenz nicht zu tadeln, nur darf sie nicht dahin führen, daß sie Gefahren in sich trägt, welche die Sicherheit der Schiffahrt aufs schwerste bedrohen, und das Leben von unzähligen Menschen aufs Spiel setzt, die sich willenlos zur Schlachtbank führen lassen müssen und nicht imstande sind, selbst etwas zur Abwehr der ihnen drohenden Gefahren zu thun.

Wenn aber die Reeder nicht nachweisen können, daß sie ihren Kapitänen befohlen haben, die von einem solchen Gesetze vorzuschreibende Schnelligkeitsgrenze nicht zu überschreiten, und ihnen die volle Haftpflicht auferlegt wird, dann muß sich die Sache sehr bald ändern. Handelt dann der Kapitän solchen Befehlen entgegen, so ist er der allein Schuldige und muß demgemäß dahin bestraft werden, jedoch nicht mit bloßer Patententziehung und 1500 Mark Geldbuße oder einigen Jahren Gefängnis. Das amerikanische Gesetz geht darin schon viel weiter. In ihm heißt es: „Geht durch Nachlässigkeit im Bau ein Menschenleben verloren, so wird dies einer Tötung gleich geachtet und der Betreffende zu Gefängnis mit schwerer Arbeit bis zu 10 Jahren bestraft.“ Wenn aber durch gesetzwidriges Schnellfahren bei einer Kollision Hunderte von Menschen ihr Leben einbüßen, dann ist das keine Nachlässigkeit mehr, sondern eine Ruchlosigkeit, ein Verbrechen, das gar nicht hart genug bestraft werden kann.

Dem Vernehmen nach hat sich vor einiger Zeit eine Vereinigung gebildet, die aus Vertretern verschiedener nationaler Vereine in Deutschland, England, Frankreich, Belgien, Holland, Norwegen, den Vereinigten Staaten und Italien besteht. Sie hat bereits in Brüssel eine Besprechung gehabt und soll demnächst in Antwerpen tagen, um eine einheitliche Festsetzung des Seerechtes anzustreben. Auf dem Programm steht auch die Frage der Kollisionen, und es soll dabei die Regelung der Schuldfrage, der Ersatzleistung für die Ladung und die Schadloshaltung der Angehörigen der Personen, die einem Zusammenstoße zum Opfer fallen, beraten werden.

Man sieht daraus, daß sich allmählich dem Volke die Ueberzeugung aufdrängt, es müsse nach dieser Richtung etwas Ernstes geschehen, sowie daß die Haftung als notwendig erkannt wird, die ich schon vor Jahren als unerläßlich bezeichnet habe. Ich fürchte nur, daß bei dieser von Privaten beschickten, wenn auch noch so gut gemeinten Konferenz nicht viel herauskommen wird. Die Regierungen müßten darin die Initiative ergreifen, und wenn auch nur eine damit beginnt, so würden die anderen bald moralisch gezwungen sein, ihr zu folgen!

In zweiter Reihe giebt es noch andere Punkte, durch die Zusammenstöße herbeigeführt werden können und oft werden, und für welche die Kapitäne oder Wachhabenden verantwortlich gemacht werden müssen.

Da ist vor allem Mangel an Ausguck, und ein schlagendes Beispiel dafür ist der Untergang der „Elbe“ mit Hunderten von Passagieren im Jahre 1895, veranlaßt durch den englischen Kohlendampfer „Crathie“. Es war eine klare Nacht; die Lichter der zu führenden Laternen müssen gesetzlich auf zwei Seemeilen (eine halbe deutsche) zu sehen sein, und sie werden daraufhin in Deutschland durch die Seewarte und deren Agenturen geprüft, was

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0126.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2020)